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thum in die Wissenschaft einzuführen, als ihn, wenn er Gemeingut der Menge geworden, auszurotten, so dürfte es das gegenwärtige Geschlecht kaum erleben, dass auch nur die Mehrzahl der durch jene Irrwege erzeugten Täuschungen auf ihr rechtes Maass zurückgeführt würde. Der Mangel an kritischer Sichtung wiederholte sich auch in den Ausdrücken. Man glaubte genauer und zeitgemässer zu sprechen, wenn man die verschiedenartigsten mikroskopischen Körperchen Zellen nannte und kam dabei zuletzt so weit, dass jeder scharfe Begriff der Zelle verloren ging.

§. 6. Der gegenwärtige Zustand der Physiologie fordert eine tiefer eindringende Behandlung der Geweblehre, als bisher versucht worden. Die blosse, wenn auch naturgetreue, doch immer gedankenlose Formbeschreibung genügt nicht. Man wird nicht nur suchen müssen, die einzelnen Gestalten der Gewebkörper mathematisch zu bestimmen, sondern auch die mechanischen Bedingungen ihrer Erzeugung festzustellen. Da aber die Kenntniss der blossen sichtbaren Raumverhältnisse für jede eingehendere Forschung nicht ausreicht, so muss allmählig die Geweblehre zu einer vollständigen Physik und Chemie der Gewebe erhoben werden, wenn sie der Physiologie und der Pathologie dienen soll. Jahrzehende werden verstreichen müssen, damit die vereinten Bemühungen vieler Forscher den ersten sicheren Grund zu einer solchen Erweiterung der Wissenschaft legen. Der Einzelne kann nur das Wichtigste des schon Zugänglichen zusammentragen, den kritischen anzulegenden Standpunkt nach Maassgabe des augenblicklichen wissenschaftlichen Zustandes näher bezeichnen und Weniges als das Ergebniss seiner eigenen Forschungen hinzufügen. Indem ich dieses versuche, beginne ich damit, den Werth der Untersuchungsarten der Gewebe im gesunden und kranken Zustande an der Hand der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu besprechen. Ich bemühe mich hierauf, einige allgemeine Gesichtspunkte über die Form und zum Theil über die Mischung der Gewebe festzustellen und endlich die vorzüglichsten physikalischen Eigenschaften derselben durchzunehmen. Eine Beschreibung der Einzelgestalten oder eine specielle Geweblehre lag natürlich ausserhalb des Planes dieses Werkes.

Die

§. 7. Es versteht sich von selbst, dass zunächst nur diejenige Form und die Mischung der Theile, die in dem lebenden Körper auftritt, für die Thätigkeiten derselhen in Betracht kommt. Aenderungen, welche die Selbstzersetzung der Leiche herbeiführt, besitzen einen nur untergeordneten Werth in dieser Beziehung. Sie

können manchen Zweigen der medicinischen Wissenschaften, z. B. der gerichtlichen Heilkunde unmittelbar dienen und der Erkenntnis der Krankheitszustände insofern nützen, als Manches, das die Fäulniss zu Tage fördert, mit Krankheitserzeugnissen genau oder annähernd übereinstimmt. Dasselbe gilt von einzelnen künstlich herbeigeführten Formveränderungen und Zersetzungen, während andere nicht einmal diesen Werth zweiten Ranges für die Lebenserscheinungen beanspruchen können. Die gröbere und die feinere Anatomie und die Thierchemie haben bis jetzt diese Verhältnisse nicht hinreichend berücksichtigt.

§. 8.. Man sollte es als erste Regel für eine jede anatomische und vorzugsweise für jede histiologische Untersuchung ansehen, die Gewebe so frisch als möglich und, wenn es irgend angeht, noch in ihrem lebenden Zustande zu untersuchen. Ich habe mich daher bemüht, die Gewebmassen meistentheils während sie noch reizbar waren oder nur wenige Stunden nach dem Erlöschen der Empfänglichkeit zu den im Laufe dieser Darstellungen erwähnten Forschungen zu benutzen und die Lücken durch die Prüfung der Theile lebender Thiere auszufüllen. Einzelne Formbestandtheile der Gebilde des lebenden Körpers sind so zart, dass ihre Erkenntniss der Jahre lang fortgesetzten mikroskopischen Beobachtung entgehen kann, weil man immer nur die Gewebe nach der Zerstörung derselben zu untersuchen pflegt. Die von feinen Wänden begrenzten Zellen der Ausschwitzungen platzen wie Seifenblasen, so wie ein Wassertropfen oder eine zu verdünnte wässerige Lösung das Präparat umgibt. Diese Veränderung geht oft in einer grossen Anzahl von Zellen in wenigen Secunden vor sich. Die nicht hinreichend behutsame Untersuchung des frischen Präparates liefert daher als Regel und die spätere Leichenöffnung in allen Fällen freie Ausschwitzungskörperchen statt runder oder sich gegenseitig abplattender Zellen. Es genügt daher nicht, frische Theile zu prüfen, sondern auch die Untersuchungsweisen aufzufinden, in denen alle künstlichen Veränderungen hinwegfallen oder wenigstens auf ein möglichst geringes Maass zurückgeführt werden.

§. 9. Die Chemie sündigt hier noch häufiger als die Mikroskopie, weil sie sich fast nie Schritt für Schritt frägt, ob die physikalischen Einflüsse und die Reagentien, die sie wirken lässt, nur Educte und nicht Producte zu Tage fördern. Es interessirte die Lebenslehre sehr wenig, als man ganze Reihen verschiedener zusammenhangsloser Stoffe aus dem Gehirne, der Galle oder dem Eidotter darstellte.

Es bezeichnete im Gegentheil einen wesentlichen Fortschritt, als man das Protagon als den Hauptbestandtheil des Hirnmarkes und die Gallensäure als den der Galle erkannte. Der unkritische Standpunkt, der sich in der physiologischen Chemie häufig geltend macht, hat zur Folge, dass viele Thatsachen, die offenbar den Lebenserscheinungen nicht entsprechen, als unbedingte Wahrheiten aufgestellt werden. Die Stoffänderungen der lebenden Gewebe gehen aus den feinsten Bedingungen, die sich in der Natur überhaupt zeigen, hervor und die gegenwärtigen Mittel der Physik und Chemie reichen meist nicht hin, dieselben willkührlich herzustellen. Statt sich dieser ausserordentlichen Schwierigkeiten bewusst zu sein und sein olda ovi un olda in geziemender Bescheidenheit auf jedem Schritte anzuerkennen, werden oft unvollkommene Thatsachen zusammengestellt und Vorstellungen und Annahmen auf ihnen aufgebaut, die an die chemischen Phantasieen früherer Jahrhunderte erinnern. Mehr als eine Erfahrung, die z. B. das Blut oder der Zuckergehalt der Leber an die Hand gibt, müssen sich als Mahnung geltend machen, dass keine die Zusammensetzung eines Gewebes betreffende Angabe zuverlässig ist, wenn sie sich nicht an dem vollkommen lebenden Gebilde bestätigt hat. Diese Bedingung vergrössert aber natürlich die ohnediess schon ausserordentlichen Schwierigkeiten der physiologisch-chemischen Untersuchung in hohem Grade.

§. 10. Die physikalische und selbst die mathematische Behandlung der Naturwissenschaften hütet sich nicht immer vor Schwächen, welche die Gegenwart nicht selten unbeachtet lässt. Man findet hin und wieder sogenannte a priorische Beweise, z. B. der Gleichheit der Ausstrahlung und der Aufnahme des Lichtes und der Wärme durch denselben Körper oder Herleitungen des grössten Werthes der Stärke des galvanischen Stromes bei Gleichheit des inneren und des äusseren Widerstandes, denen man es ansieht, dass man das aus der Erfahrung bekannte Ergebniss durch einen erkünstelten oder ungenügenden Gedankengang scheinbar rein theoretisch finden

will. Etwas Aehnliches wiederholt sich für manche rein mathematische Herleitungen einzelner Schriftsteller. Die theoretische Mechanik und selbst die Astronomie stellt viele Sätze, die auf blossen Annäherungen beruhen, als unbedingt und genau hin. Die gewöhnliche Betrachtungsweise aller Erscheinungen, in denen Bewegungsbeschleunigungen vorkommen und auf die man den d'ALEMBERT'schen

Grundsatz) zur Aufstellung der Ausgangsgleichung anwendet, gehört hierher, weil man nur dann eine Differentialgleichung zweiter Ordnung erhält, wenn man die Differentialien höherer Ordnung hinweglässt. Der in der Physik geläufige Satz, dass die Schwere mit dem Sinusquadrat der Breite von dem Aequator nach den Polen zunehme2), und die Lehren der Astronomie von der Beständigkeit der grossen Achsen, den geringen Excentricitäten und den kleinen gegenseitigen Neigungen der Planetenbahnen 3) sind ebenfalls blosse Ausdrücke von Bestimmungen, in denen man bei den Grössen zweiter Ordnung stehen bleibt. Die meisten astronomischen Rechnungen überhaupt, die sich auf die Anziehungserscheinungen und deren Folgen, wie z. B. die Ebbe und Fluth beziehen, beschränken sich auf solche Näherungsbestimmungen. Manche mathematische Theorieen begehen überdiess noch den Fehler, dass sie aus Reihen als bedeutungslos Glieder hinweglassen, die von derselben Ordnung, wie die beibehaltenen sind.

§. 11. Die theoretische Physik erlaubt sich häufig ein Verfahren, das wesentliche Irrwege in die Wissenschaft einbürgern kann. Die Aufgabe führt zu einer Differentialgleichung zweiter Ordnung, der mehr als eine allgemeine und eine oder mehrere besondere Auflösungen entsprechen. Man wählt eine derselben aus Nebengründen, z. B. der Leichtigkeit der Behandlung wegen oder weil einzelne Nebenbedingungen für sie zu sprechen scheinen, und gebraucht sie so, als bilde sie den wahren Ausdruck der Naturerscheinung, ohne sich der Möglichkeit eines Abweges, auf den man gerathen, bewusst zu werden. Die allgemeine Integration einer solchen Differentialgleichung führt bisweilen auf einen Werth, der aus dem Producte einer periodischen Kreisfunction und der Summe einer Exponentialgrösse mit negativem und einer solchen mit positivem Exponenten besteht 4). Enthält dieser die Zeit, so lässt man

1) Siehe dieses Unternehmens ersten Band S. 97.

2) Zur Rechtfertigung des Gesagten siehe z. B. die mathematische Herleitung bei H. RESAL, Traité élémentaire de Mécanique céleste. Paris, 1865. 8. p. 153. 154. 3) Vgl. RESAL ebendas. p. 82-99.

4) Man gelangt z. B. zu einem Ausdrucke von der Form:

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(20
+be+ pt)

+pt)

cos cp

wo u die abhängige Veränderliche, a, b und c willkührliche beständige Grössen, p ein aus den Nebenbedingungen sich ergebender Werth und t die unabhängig veränderliche

Zeit bedeutet. e ist die Basis der natürlichen Logarithmen. Man lässt das Glied be aus den im Texte angegebenen Gründen hinweg.

+pt

Beurtheilung der physikalisch-mathematischen Ausdrücke.

9

das zweite Glied hinweg, weil sonst mit ihr die abhängige Variable in das Unendliche wachsen würde, verstümmelt also eine theoretisch sichere Formel oder zieht vielmehr den besonderen, eingeschränkteren Ausdruck dem vollständigeren vor, weil dieser mit der Erfahrung nicht übereinstimmt.

§. 12. Führt eine Annahme zu einem rein imaginären Ausdrucke 1), so pflegt man ihn in den physikalischen Theorieen ohne Weiteres hinwegzulassen, weil angeblich das Imaginäre in der Wirklichkeit nicht vorhanden sei. Man berücksichtigt aus demselben Grunde nur die reelle Grösse eines complexen Werthes 2). Diese Auffassungsweise war nur so lange berechtigt, als man die imaginären Grössen als blosse erdachte Rechnungshülfsmittel, denen kein wahres Dasein zukäme, ansehen konnte. Seitdem aber der mehrfach ungerecht beurtheilte KÜHN3) im vorigen Jahrhundert und unter dessen Nachfolgern vorzugsweise GAUSS die geometrische wirkliche Bedeutung der imaginären Grössen nachgewiesen haben, lässt sich nicht mehr ein rein imaginärer oder ein complexer Ausdruck, auf den man in einer physikalischen Theorie stösst, als sinnlos ansehen. Wie jede Gleichung den Ausdruck einer geometrischen Beziehung bildet, so muss auch umgekehrt eine jede geometrisch darstellbare Herleitung einen wahren Sinn haben. Die imaginären

2n

1) Man bezeichnet hiermit eine gerade Wurzel aus einer negativen Grösse, als

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2n

a = a

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1, SO

1 heraus. Wird

-a, weil sie sich nicht arithmetisch angeben lässt. Da V kommt das Imaginäre im Wesentlichen auf eine gerade Wurzel aus 1= 1, so bezeichnet man auch nach GAUSS die dann von ihm sogenannte laterale Grösse √ mit i.

2) Eine complexe Grösse besteht aus der Summe eines reellen und eines imaginären Werthes. Also z. B. z = x + iy, wo x und y reell sind.

3) Die Abhandlung, in der zuerst KÜHN die geometrische Bedeutung der imaginären Grössen zu entwickeln suchte, findet sich in den Novi Commentarii Petropolitani. Tomus III. Ad annum 1750. 1751. Petropoli, 1753. 4. p. 170-223. Der von ihm geäusserte Gedanke, dass eine imaginäre Grösse einer innerhalb eines Rechtecks gezogenen Halbirungslinie oder der Diagonale eines Parallelepipedes entsprechen könne, wurde merkwürdiger Weise von EULER, der die Abhandlung kannte, so viel ich wenigstens weiss, nirgends aufgenommen und weiter geführt. KÜHN ward hierauf nicht nur beinahe hundert Jahre todtgeschwiegen, sondern sogar von Einzelnen (MONTUCLA, Histoire des Mathématiques. Nouvelle Édition. Paris, 1802. 4. Tome III. p. 30. H. DURÈGE, Elemente der Theorie einer complexen veränderlichen Grösse. Mit besonderer Berücksichtigung der Schöpfungen RIEMANN's. Leipzig, 1864. 8. S. 4) für einen wissenschaftlichen Sonderling seiner physikalischen Ansichten wegen ausgegeben.

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