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Die schulandachten, welche aus kürzeren reden mit eingelegten chorgesängen bestanden, wurden anfangs von Basedow selbst, späterhin von Salzmann geleitet, der speciell als liturg angestellt war. zeitgenossen rühmen die edle, schöne simplicität im äuszerlichen der liturgie sowie die rührende stille und teilnehmung einer aufblühenden, wohlerzogenen, heitern kinderversammlung; anderwärts lesen wir auch von thränen inniger rührung, die in manchem jünglingsauge schimmerten. wir gestehen, dasz wir an all diese schönen dinge nicht recht glauben. nicht als ob die jugend keiner tiefern empfindung fähig wäre; aber diese empfindung, mag sie nun religiöser, patriotischer oder ästhetischer art sein oder von welcher art sie sonst will, sie versteckt sich lieber schüchtern oder verleugnet sich auch trotzig, als dasz sie fortwährend sich selbst bespiegeln möchte. und in dieser auffassung bestärkt uns das treffliche protokollbuch, denn da lautet es: 'um den störungen in den gewissensübungen vorzubeugen, ward für gut befunden, den hausknecht Appel an die thür des betsaales zu stellen.' es ist kein zweifel, die dreifache religion Basedows, so herzlich gut sie auch gemeint war, sie hatte doch den bösen fehler, dasz sie durch ihr übermasz ermüdete.

Und nun der dritte punkt, der beifall guter menschen. dieser beifall erscheint für den philanthropisten in der handgreiflichen gestalt der sogenannten meritentafeln. da eine dieser tafeln sich noch erhalten hat und zur ansicht ausgestellt ist, so wird eine kurze erläuterung vielleicht nicht unwillkommen sein.

Die lehrer des philanthropins waren jederzeit mit einer anzahl billets versehen, um sie an diejenigen schüler zu verteilen, welche sich durch fleisz, aufmerksamkeit und gesittetes betragen lob verdienten. alle sonnabend wurde senat gehalten, der sich aus dem curator Basedow, den sämtlichen professoren und lehrern zusammensetzte, und zu dem auch wohl einige schüler hinzugezogen wurden, deren vorzüglichen fleisz und untadelhafte aufführung man durch solche ehre belohnen wollte. hier nun ward verdienst und vers chuldung jedes zöglings sorgfältig abgewogen; jeder tadeles werden. auch schwarze billets erwähnt Imachte ein lobendes billet ungültig. erreichte ein zögling die zahl von 50 billets, so wurde ihm ein goldener punkt zuerkannt, und dieser punkt wurde tags darauf, nach geendeter gottes verehrung, öffentlich bei seinem auf der tafel stehenden namen eingeschlagen. fünfzig goldene punkte berechtigten zu dem orden des fleiszes 24 oder dem der tugend, die beide aber nur bei feierlichen gelegenheiten getragen wurden.

24 der orden des fleiszes bestand in einem feuerfarbenen, mit einer schicklichen devise gezierten bande, welches zwischen den knopflöchern auf der brust befestigt wurde; der orden der tugend in einer silbernen, mit schicklichen sinnbildern gezierten medaille, und wurde an einem weiszen bande am halse getragen. Die verdienstlichen handlungen, durch welche goldene punkte erworben werden konnten, waren folgende: 1) angethanes unrecht ohne zorn und rachbegierde erdulden und dem beleidiger freiwillig vergeben; 2) aus eignem antriebe und ohne nach

Die wirkung dieser meritentafeln schildert Basedow als eine auszerordentliche. 'seitdem wir dieselben eingeführt', sagt er, 'sehen wir uns genötigt, unsere schüler mehr zurückzuhalten als anzuspornen. sie bestürmen die lehrer mit bitten um unterricht und sehen es für eine wohlthat an, wenn die lehrstunden verdoppelt werden. sie würden von früh morgens bis mitternacht stunden haben, wenn es nach ihrem wunsche gienge. auch ihr verhalten auszer den lehrstunden ist seitdem so untadelhaft gewesen, dasz noch keine gelegenheit zu strafen vorgefallen ist.'

Diesem jubelhymnus tritt nun das protokollbuch mit seiner kühlen prosa entgegen. es heiszt dort beim 31 juli 1785: 'mit der ausgabe der billete soll man sparsam sein und auf eine stunde vorzüglichen fleiszes nur etwa 1/4 billet geben. man hofft durch diese einrichtung den billeten in den augen der zöglinge wieder mehr wert und zur beförderung des fleiszes neuen reiz zu geben.' und ein beschlusz vom 11 september desselben jahres fügt hinzu: 'man soll so haushälterisch verfahren, dasz ein fleisziger und ordentlicher zögling wöchentlich überhaupt nur 12-16 billets erhält, also monatlich einen punkt, so dasz er in 4 jahren den orden des fleiszes erwerben kann. wer in dieser zeit das ziel nicht erreicht, verliert alle ansprüche auf ein solches ehrenzeichen.'

Ein anderes mittel, den moralischen zustand der zöglinge zu heben, die sogenannten tugendübungen", bringt Basedow nur in vorschlag, ohne doch sofort, weil er die vorurteile des publicums fürchtete, gebrauch von ihnen zu machen. er empfiehlt z. b., gelegentlich auf 8 oder 14 tage gänzliche anarchie einzuführen; folge würde sein, dasz die schüler sich bald nach einem durch gesetze eingeschränkten arbeitsamen leben zurücksehnen und die lehrer bitten würden, wieder die vorige herschaft über sie anzunehmen. einen versuch in dieser richtung scheint man, wenngleich in beschränkter weise, wirklich gemacht zu haben. unter dem 19 october 1778 findet sich nemlich verzeichnet: 'die stunden von 1-2 und 5-8 sind unfugsstunden. wir bekennen und gestehen, namentlich

herige ruhmredigkeit dienste erweisen, die mit einiger mühe und aufopferung verbunden sind; 3) mitschüler vom bösen abhalten; 4) etwas gutes anzeigen, das ein anderer gethan hat; 5) seine sachen, kleidungsstücke, bücher, schreibmaterialien usw. stets in ordnung halten; 6) eine bestimmte zeit lang immer folgsam und tadelfrei sich erweisen.

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25 hierher gehört auch die gröszere versinnlichung der religion. baukunst, malerei, musik, alle unschuldigen sinnlichen vergnügungen sogar die mäszigen vergnügungen des gaumens und der leibesbewegung durch anständigen tanz sollten bei den gottesverehrungen sich concentrieren und in religiöse empfindungen des dankes und der liebe gegen den sich verwandeln, von welchem alle guten gaben kommen. Diese anticipation der zukunftsoper ist project geblieben, wohl schon der kosten wegen. etwas anderes aber ist wirklich ins werk gesetzt worden, nemlich eine kinderzeitung, in welcher die lobenswürdigen handlungen guter kinder erzählt wurden, um sie selbst dadurch noch eifriger im guten zu machen und andere zur nachahmung zu reizen.

N. jahrb. f. phil. u. päd. Il. abt. 1885 hft. 1.

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Trapp und Neuendorf, dasz in dieser zeit viel geschehen wird, welches nicht auf unsere köpfe fallen kann und musz.'

Fragt man nun schlieszlich, welche resultate mit diesen zum teil recht wunderlichen veranstaltungen erzielt wurden, so lautet die antwort überraschend günstig. von allen, welche das philanthropin besucht 26 haben, wird die sittliche haltung und das ganze benehmen der zöglinge gerühmt. namentlich wird hervorgehoben, wie auf allen gesichtern ein ausdruck von unschuld, offenheit und heiterkeit sich zeige, der zu jener eigentümlichen schulmiene, die man anderwärts finde, im wohlthuendsten gegensatze stehe. das protokollbuch befindet sich damit nicht in widerspruch, da es nur einen fall von ungesetzlichkeit meldet und beim jahre 1786 ausdrücklich bemerkt, dasz die höchste strafe, die zeitweilige entziehung der philanthropistischen uniform, noch nie zur anwendung gekommen sei und wohl auch niemals sich notwendig erweisen werde. 27

Wenn so überraschende erfolge erzielt wurden, so wird man vielleicht zur erklärung sagen, dasz nicht nur Basedow, dasz auch der himmel die moralische erziehung für die wichtigste gehalten und deshalb was er bei der wissenschaftlichen nicht that selbst ungeschickte bemühungen mit reichem segen gekrönt habe. aber es darf auch den einrichtungen des philanthropins nicht alles verdienst

26 man vergleiche, was Salzmann über seinen ersten besuch in Dessau berichtet: obgleich die kürze meines aufenthalts mir nicht gestattete, tief genug in die philanthropische verfassung einzudringen, so war doch das betragen der dasigen eleven mir bürge für die richtigkeit der grundsätze, die ihnen beigebracht, und für die wirksamkeit der mittel, durch welche sie zur ausübung geleitet wurden. ich sah sie zuerst bei der gottesverehrung. unschuld blickte jedem aus den augen, auf keinem gesichte vermochte ich einen zug von niederträchtigkeit, tücke, neid oder bosheit zu entdecken. ihr gesang war der ausdruck der herzlichsten ehrfurcht gegen die gottheit. ich speiste in ihrer gesellschaft. da herschte nicht jene tote stille, die man oft bei kindern bemerkt, die in erziehungshäusern eingesperrt sind; alles war leben und munterkeit, und doch nirgends mutwilliges getöse, sondern allenthalben sanftes ergieszen der herzen. der appetit, mit welchem alles verzehrt wurde, zeugte hinlänglich von ihrer gesundheit. ich beobachtete ihre spiele, die sie bei damaliger rauher witterung mit entblöszter brust auf dem eise anstellten, und bemerkte an allen eine munterkeit und behendigkeit, die allen glauben übersteigt. noch unglaublicher aber ist es, dasz unter einer menge von 50 spielenden kindern nicht die geringste spur von jenen zwistigkeiten und neckereien zu finden war, die sonst von den spielen der kinder unzertrennlich sind. die freude, mich auf einmal in die welt versetzt zu sehen, die ich auszer meinem gehirne nirgends zu finden glaubte, bemeisterte sich meines herzens; ich umarmte jeden, der mir aufstiesz, jeder drückte mir die hand, und jeder händedruck war so kraftvoll, dasz dieser allein hinlänglich war, mich zu überzeugen, dasz die philanthropisten nach besseren grundsätzen müssen erzogen werden als die in den mehrsten vornehmen häusern. ich fragte alles, was mir einfiel, und bekam auf alle fragen prompte und richtige antwort.'

27 diese hoffnung war nicht ganz zutreffend. bei den acten findet sich ein zettel ohne datum, der eine derartige bestrafung meldet.

abgesprochen werden. 28 das naturgemäsze verhältnis zwischen geistiger und körperlicher thätigkeit, die zweckmäszige ausfüllung der muszestunden, überhaupt die gewöhnung, jederzeit gern und auf eine nützliche art thätig zu sein, hat gewis in moralischer beziehung mehr geholfen als alle paränetischen stunden und goldenen punkte. das zweite ist der einflusz, den persönlichkeiten wie Wolcke, Campe, Salzmann, Olivier, Kolbe, Lenz, Matthisson, Neuendorf u. a. ausüben musten. das dritte endlich die einwirkung des fürsten selbst, eines der ausgezeichnetsten männer des groszen achtzehnten jahrhunderts. wie er sich persönlich vielfach um das philanthropin bekümmerte, so lud er auch die philanthropisten nicht selten zu sich und zog sie zur tafel. so geschah es z. b. an dem ersten jahrestage nach eröffnung des institutes. die 'philanthropisten saszen an der tafel des erbprinzen, ihres mitschülers, die aufwartung besorgten die famulanten (d. h. im institut erzogene arme knaben, die zu bedienten oder auch zu volksschullehrern 29 vorgebildet wurden), neben ihnen die fürstlichen bedienten und ihre hoheiten, die prinzessinnen aus königlich preuszischem hause. nachmittags war kinderkomödie ein schauspiel von Rhode wurde aufgeführt und nachher wurde von allen jugendlich gespielt, dem erbprinzen, jungen gräfinnen, fräuleins, philanthropisten und famulanten, im beisein der herschaften und des hofes, durcheinander so laut und lärmend und doch ohne tadel, dasz man, wie der erzähler hinzufügt, wohl niemals an einem fürstlichen hofe ein gleiches gesehen hat.'

Wenn das philanthropin, wie öfters betont wird, keinen bedeutenden philologen gebildet hat, so sind doch, was mehr sagen will, edle menschen aus ihm hervorgegangen. zu ihnen gehört vor allen der erbprinz Friedrich selbst, der späterhin, in der schweren zeit der Franzosenherschaft, als mitregent und stütze seines vaters, sich die grösten verdienste um das land erworben hat. wer den alten friedhof besucht, findet in der mitte desselben ein einfaches grab ohne denkstein, nur von einer dürftigen ceder beschattet. es ist das des erbprinzen. so in der mitte seiner bürger, ohne ruhmredige grabschrift, wollte er bestattet sein; auch dies ein ausflusz jener aufgeklärten und humanen denkweise, wie sie auf dem philan

25 das verdienst der philanthropischen erziehung erscheint um so gröszer, wenn man berücksichtigt, welche roheiten die neuaufgenommenen mitzubringen pflegten. da über die lobenden und tadelnden billets genau buch geführt wurde, so können wir uns über jede einzelne unart unterrichten. ein anfänglich öfters geübter streich war, dasz man schlafenden kameraden feuer unter die füsze legte oder wasser ins bett gosz. von häszlicher unsitte redet auch folgende bestimmung: alle werden gebeten, dahin zu sehen, dasz keiner der pensionisten bei der thür des lehrzimmers und des speisesaals oder bei der hausthür sich hinstellt, sein wasser abzuschlagen.'

29 diese zusammenstellung hat etwas auffälliges; Basedow gieng aber von der ansicht aus, dasz die bedienten, weil sie in vornehmen häusern einflusz auf die erziehung der kinder übten, auch eine gewisse pädagogische bildung nötig hätten.

thropin, trotz aller goldenen punkte und orden, doch für das leben gepflanzt wurde.

Die befremdliche thatsache, dasz diese anstalt, auf welche man so grosze hoffnungen gesetzt, frühzeitig kränkelte und verfiel, wird mit vorliebe darauf zurückgeführt, dasz Basedows unruhiges und unpraktisches wesen gleich anfangs vieles verdorben habe. dieser schaden hätte sich aber heilen lassen, zumal Basedow später die leitung aufgab. die wahrheit dürfte vielmehr sein, dasz das unternehmen an seiner zu hoch gespannten idealität scheiterte. eine so allseitige und allseitig vollkommene erziehung, wie Basedow sie im sinne hatte, fordert von den erziehern einen eifer für die sache, der in jedem momente gleich lebhaft ist, eine geistige und körperliche spannkraft, die niemals nachläszt. die erfahrung aber lehrt, dasz nur das einen gleichmäszigen fortgang nimmt, was mit mittelmäszigen kräften, was in gewohnheitsmäsziger, oder sagen wir, handwerksmäsziger weise gethan werden kann. daher beim philanthropin, so lange die erste begeisterung sich behauptete, eine kurze blüte, bald aber ein allmähliches absterben, als diese begeisterung verflog und man in bequemere bahnen glaubte einlenken zu können.

Und noch eine andere ursache dürfte mitgewirkt haben. das schulwesen, als ein zweig des staatswesens, wird in seinem wachstum und gedeihen immer durch den hauptorganismus bedingt sein. als Basedow auftrat, herschte in Deutschland der aufgeklärte despotismus. die regierenden waren es, welche Rousseaus ideen zu verwirklichen suchten, und unter ihrem schutze durfte die pädagogik das gleiche erstreben. bald aber veranlaszte der schrecken vor der französischen revolution einen stillstand in den reformen, dann eine en tschiedene reaction, der auch das schulwesen folgen muste. unter solchen verhältnissen war kein platz mehr für jene ideen von natur und freiheit, die Basedow hatte verwirklichen wollen; deshalb muste das philanthropin zu grunde gehen, nicht, weil ihm die geeigneten kräfte, sondern weil ihm die notwendigen lebensbedingungen fehlten.

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Noch ungünstiger scheinen die verhältnisse in der gegenwart zu liegen. Deutschland ist aus geschichtlicher notwendigkeit ein militärstaat geworden, dessen streng gebundener charakter auch in der gestalt des schulwesens zum ausdruck kommt. die constitutionellen formen, mit denen er sich umgeben hat, sind noch zu neu, als dasz ihr mildernder einflusz schon dieses gebiet hätte erreichen können. in solcher zeit des sehnsüchtigen wartens richten sich die blicke gern zurück nach erscheinungen früherer perioden, in denen vorbildlich sich andeutet, was man in vollendeterer gestalt von der zukunft erhofft. solcher art ist für uns auch die bedeutung des philanthropins. wie es ein protest war im namen der natur und freiheit, so verkündet es auch vorbedeutend einen zustand des schulwesens, wo diese ideen auf dem boden der ordnung und gesetzmäszigkeit sich verwirklichen werden.

DESSAU.

L. GERLACH.

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