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ZWEITE ABTEILUNG

FÜR GYMNASIALPÄDAGOGIK UND DIE ÜBRIGEN

LEHRFÄCHER

MIT AUSSCHLUSZ DER CLASSISCHEN PHILOLOGIE

HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. HERMANN MASIUS.

1.

DAS DESSAUER PHILANTHROPIN IN SEINER BEDEUTUNG FÜR DIE REFORMBESTREBUNGEN DER GEGENWART. (vortrag, gehalten auf der philologenversammlung zu Dessau.)

Vom philanthropin zu reden, dazu veranlaszt nicht nur der ort, an dem diese versammlung stattfindet, sondern fast eben so sehr die zeit, insofern das jahr 1784 einen wendepunkt in der geschichte desselben bildet. nur bis zu diesem jahre reichen die nachrichten über das philanthropin, wenigstens die allgemein zugänglichen; offenbar war man schon kleinlaut geworden. Salzmann verläszt damals die anstalt, um in Schnepfenthal eine eigne zu gründen. in Dessau selbst denkt man bereits an die errichtung eines gymnasiums', welches der erbe des philanthropins werden sollte. so bezeichnet das jahr 1784 den vorläufigen abschlusz jener bewegung, welche durch Basedow auf dem pädagogischen gebiete hervorgerufen war. doch wichtiger als dieses äuszerliche zusammentreffen von ort und zeit ist ohne zweifel das zusammentreffen der voraussetzungen, von denen Basedow ausgieng, und der ziele, die er aufstellte, mit den voraussetzungen und zielen der jetzigen reform bewegung. das philanthropin sollte um einen ausdruck von Wiese zu gebrauchen - ein protest sein gegen einseitigkeiten und mängel, unter denen das schulwesen nicht blosz damals zu leiden gehabt hat. 'die ideale aber' auch dies sind Wieses worte für welche diejenigen zeugnis abgelegt, die klar erkannten, was ihrer zeit zur beseitigung drückender übel besonders not that, sie sind nicht träume oder phantasien, sondern strebensziele von bleibendem wert.'

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Unter diesem gesichtspunkte also, mit fortwährender beziehung auf die gegenwart, soll die erziehungsmethode des philanthropins

1 dieses gymnasium wurde bereits am 3 october 1785 eröffnet, N. jahrb. f. phil. u. päd. II. abt. 1885 hft. 1.

1

hier betrachtet werden, ohne dasz doch diese beziehung überall besonders hervorgehoben würde. aus den bloszen thatsachen wird sich meistens von selbst ergeben, wo das philanthropin als warnendes beispiel, wo es als nachahmungswürdiges muster dienen kann. auch als nachahmungswürdiges muster! die darstellung freilich, die Raumer in seiner geschichte der pädagogik gibt und die für das allgemeine urteil maszgebend geworden ist, läszt davon wenig merken; sie erscheint, wie Raumer selbst sagt, fast wie eine pädagogische carricatur. das kann in der sache liegen, kann auch die schuld des schriftstellers sein. aus lauter richtigen einzelheiten ein unrichtiges gesamtbild zu componieren, ist nicht schwer; man braucht nur alles wunderliche und verkehrte grell beleuchtet in den vordergrund zu stellen, das gute und wertvolle kurz abzufertigen. von solcher tendenziösen gruppierung der thatsachen ist auch Raumer nicht ganz freizusprechen. ihm behagte die luft der aufklärung nicht, die im philanthropin wehte; ihm ist es verdächtig, dasz juden und freimaurer das unternehmen mit geld unterstützten; am meisten aber scheint die ungünstige vorstellung, die er sich von Basedows charakter gebildet, das werk des mannes bei ihm discreditiert zu haben.

Mit leichtigkeit liesze sich, wenn es die mühe lohnte, aus den vorhandenen quellen auch ein sehr vorteilhaftes bild des philanthropins herstellen, das ebenso wenig unwahr, aber auch ebenso wenig zutreffend sein würde, wie die darstellung Raumers; denn fast alles, was von den zeitgenossen über Basedow und sein unternehmen veröffentlicht wurde, ist polemischer natur und von gunst oder hasz beeinfluszt. glücklicher weise existiert noch eine andere, bisher unbenutzte quelle, die nirgends von parteilichkeit getrübt ist, nemlich die aufzeichnungen der pädagogischen gesellschaft. im jahre 1777, in der ersten blütezeit des institutes, stiftete Basedow diese vereinigung unter den lehrern desselben, zu dem zwecke, gesellschaftlich

2 die ungünstigen vorstellungen, die über Basedow in umlauf sind, lassen sich zum guten teil zurückführen auf die berüchtigte schmähschrift von Reiche: getreue darstellung der umstände, unter welchen Joh. Bernh. Basedow, königlich dänischer professor, schläge bekommen und seinen rock verloren, auch mit herrn director Wolcke einen schändlichen process angehoben hat.' eine gerechtere würdigung ist Basedow durch Max Müller zu teil geworden in der allgemeinen deutschen biographie. hier wird er geschildert als ein mann, der durch sein unerschrockenes und oft rücksichtsloses auftreten sich viele feinde, durch seine groszen erfolge sich viele neider machte, der in den letzten jahren seines lebens und unmittelbar nach seinem tode, wegen seiner zerwürfnisse mit frühern mitarbeitern, auch wegen des fehlschlagens der übertriebenen erwartungen, die man vom philanthropin gehegt hatte, von vielen hart und ungerecht beurteilt worden ist, dessen wahres verdienst aber, als eines der kühnsten vorkämpfer im kampfe für menschenrechte und menschenwürde, für wahrheitstreue und geistesfreiheit, sowohl durch die stimme der besten seiner zeit als durch das unparteiische urteil der nachwelt bekräftigt worden ist.’

keit und freundschaft unter den mitgliedern zu erhalten sowie alle für das institut wichtigen fragen vertraulich zu besprechen. die protokolle dieser gesellschaft sie reichen, allerdings mit einer unterbrechung von etlichen jahren, von october 1777 bis april 1793

geben einen bessern einblick in das wesen und die entwicklung des philanthropins als die empfehlungsschriften seiner freunde oder die schmähschriften der gegner. von diesen ungeschminkten berichten wird demnach im folgenden öfters gebrauch gemacht werden, um lob wie tadel auf das rechte masz herabzusetzen.1

Den grundgedanken seiner reformatorischen bestrebungen hat Basedow mit jener volkstümlichen rhetorik, die ihm fast immer zu gebote stand - nachdrücklich in folgende worte zusammengefaszt: 'natur! schule! leben! ist freundschaft unter diesen dreien, so wird der mensch, was er werden soll und nicht alsobald sein kann: fröhlich in der kindheit, munter und wiszbegierig in der jugend, zufrieden und nützlich als mann. aber wenn die natur von der schule gepeitscht und die schule vom leben des mannes verhöhnt wird, da ist der mensch zuletzt dreifach als eine misgeburt aneinander gewachsen, drei köpfe, sechs arme, und im täglichen zanke unzertrennlich.'

Wir können unerwähnt lassen, in welcher weise dieses thema weiter variiert wird; es ist dieselbe klage, die auch jetzt von allen seiten ertönt, die klage, dasz durch überbürdung geist und körper des schülers erschlaffe und alle freudigkeit des lernens erstickt werde. daher die forderung, dasz die physische erziehung ihr gutes recht wieder erhalten müsse, und zwar nicht blosz um der leiblichen gesundheit willen, sondern auch in rücksicht auf die moralische erziehung, die wichtigste von allen. 'die moral eines schwachnervigten menschen', sagt Basedow, hat keinen festen, bleibenden gehalt. je nachdem die luft heiter oder trübe, trocken oder feucht, elastisch oder schlaff ist, steigt oder sinkt der moralische wert eines solchen menschen mit dem quecksilber des barometers um die wette.' für beide zwecke nun, für die physische wie für die moralische erziehung, sollte raum gewonnen werden, und nicht etwa auf kosten, sondern zum nutzen des wissenschaftlichen unterrichts, da ja nichts weiter erforderlich schien, als dasz man alles unnütze und schädliche aus letzterem entfernte.

Man kann nicht sagen, dasz Basedow bei ausführung seines planes sich überstürzt hätte. schon dasz er bis in sein höheres alter

3 um den vertraulichen charakter dieser besprechungen zu sichern, war festgesetzt, dasz jeder, der auszerhalb der gesellschaft etwas erzählte oder bestätigte, was in derselben zu verschweigen beschlossen war, einen reichsthaler strafe zahlen sollte.

4 die acten des philanthropins galten bisher für verloren und sind erst kurz vor der philologenversammlung wieder aufgefunden worden. es befinden sich dabei briefe von Kant, Klopstock, Gleim, Claudius, Salzmann, Rochow und andern.

gewartet hat, ehe er mit seinen ideen hervortrat, musz ein günstiges vorurteil für ihn erwecken. und als sich endlich die gelegenheit bot, diese ideen zu verwirklichen, auch da liesz er sich durch das so natürliche verlangen, selbst noch die früchte seiner aussaat zu ernten, keineswegs zur übereilung fortreiszen. es gehört auch dies zu den widersprüchen seines wesens, dasz er, der in einzelheiten nicht selten hastig und unüberlegt verfuhr3, doch die geduldigste zurückhaltung bewies, wo es sich um die hauptaufgabe seines lebens handelte. so weist er den gedanken weit von sich, die beabsichtigten reformen gleich allgemein eingeführt zu sehen. er erklärt es für zweckwidrig, mit feststehenden verordnungen anzufangen und nicht mit versuchen, das gute besser, das bessere noch besser zu machen; er hält es für inhuman, unschuldige alte schulleute zwingen zu wollen, etwas neues zu lernen und zu thun, statt dasz man abwarten sollte, bis sich für das neue auch neue kräfte herangebildet. daraus aber ergibt sich für ihn die folgerung, dasz schulverbesserungen nicht sofort auf ein ganzes land ausgedehnt werden dürfen, ehe man nicht eine einzelne schule besonders vervollkommnet hat, damit sie den übrigen als muster diene.

Solche musterschule nun sollte das philanthropin in Dessau werden; aber auch dies nicht ohne weiteres. zunächst verlangte Basedow eine anstalt, wo durch praktische versuche, die aber nur mit wenigen zöglingen vorzunehmen seien, die neue methode gefunden, zugleich aber die lehrer für diese methode herangebildet würden. ein pädagogisches seminar in groszem stile war es also, was er ins auge gefaszt hatte. dazu bedurfte es aber auf viele jahre hinaus beträchtlicher geldmittel. der ganze kostspielige apparat einer groszen erziehungsanstalt muste unterhalten werden, ohne dasz diese anstalt einen teil der kosten selbst aufzubringen vermochte. Basedow rechnete auf ausgedehnte unterstützung durch das publicum; sie blieb aus; und was der fürst von Dessau ge

5 dies machte sich besonders geltend, als das philanthropin nun wirklich ins leben trat, mit bezug darauf äuszert Gleim in einem briefe vom november 1776: bei meinem dortsein bat ich den vortrefflichen Basedow, nicht sturm zu laufen, nicht so jämmerliche klagelieder anzustimmen, nichts von dem besten schulwesen in Europa zu rühmen, sondern leise zu werke zu gehen, die religion nicht einzumischen und das werk selbst den meister loben zu lassen, mit meinem leben wollte ich haften, dasz durch diesen weg das herliche philanthropin zu stande kommen würde.'

6 was so fern von der vollkommenheit', heiszt es an anderer stelle, 'als der menschen moralische und litterarische erziehung, das wird nicht auf einmal nach einem formulare gebessert, welches des wohlstandes wegen jahre lang gültig sein musz, weil eine majestät es unterschrieb. jährlich und täglich beobachtet, versucht, gut befunden, beschlossen, von stück zu stück! so projectiert die vernunft. langsam, langsam vorwärts, etwas wieder zurück, um auszubeugen, dann wieder mehr vorwärts! das wäre der einzige weg zu mancher glückseligkeit. aber nur für die vervollkommnung des kriegswesens denkt man auf diesen einzigen weg.'

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