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Still und schweigend, wie es ihre Weise ist, saßen die beiden wohlthätigen Genien der Menschheit in traulicher Umarmung, und schon nahete die Nacht.

Da erhob sich der Engel des Schlummers von seinem bemoos'ten Lager, und streuete mit leiser Hand die unsichtbaren Schlummerkörnlein. Die Abendwinde trügen sie zu den stillen Wohnungen des müden Landmannes. Nun umfing der süße Schlaf die Bewohner der ländlichen Hütten, von dem Greise, der am Stabe geht, bis zu dem Säugling in der Wiege. Der Kranke vergaß seine Schmerzen, der Trauernde seinen Kummer, der Arme seine Sorgen. Alle Augen schlossen sich.

Jezt, nach vollendetem Geschäfte, legte sich dieser wohlthätige Genius wieder zu seinem ernsteren Bruder hin. „Wenn die Morgenröthe anbricht," rief er mit fröhlicher Unschuld, „dann preiset mich die Welt als ihren Freund und Wohlthäter! O welche Freude, ungesehen und heimlich Gutes zu thun! Wie glücklich sind wir unsichtbaren Boten des guten Geistes! Wie schön unser stiller Beruf!"

So sprach der freundliche Engel des Schlummers. Der To

schen, of men (gen. plur.); wehmüthig, melancholy; Stille, silence; walten, to reign, prevail; rings umher, round about; Abendglocke, vesper-bell ; fern, distant (adj.); Dörflein, village; verstummen, to grow mute, to cease; schweigend, silent; wie es ihre Weise ist, as is their custom; die beiden, the two; wohlthätig, beneficent; Genien, pl. of Genius, guardian-angel (see Gr. p. 400, § 42, 2d); der Menschheit, of the human race; traulich, intimate, cordial; Umarmung, embrace; nahen, to approach; da, then; erhob sich, arose, imperf. of sich erheben*; bemoost, moss-covered; Lager, couch; streuen, to strew, scatter; leiser, noiseless; Hand, hand; unsichtbar, invisible; Schlummerkörnlein, seeds of slumber; trugen, carried, imperf. of tragen*; müde, tired; Landmann, husbandman; umfing, enfolded in its arms, imperf. of umfangen*; Be= wohner, inmates; ländlich, rural; Hütte, cottage; Greis, gray-haired sire; gehen, to go, walk; am or an dem, (leaning) on his; Stabe, staff; bis zu, down to, even to; Säugling, infant; Wiege, cradle; der Kranke, the sick; vergaß, forgot, imperf. of vergessen*; Schmerz, pain; der Trauernde, the mourner; Kummer, grief; Arme, poor man, adject. used substantively (Gr. p. 417, § 70); Sorgen, cares ; Suge, eye; schlossen sich, were closed, imperf. of sich schließen*; nach vollendetem Geschäft, after his task was ended; legte sich, laid himself; wieder, again; zu ... hin, by the side of; ernst, stern; Bruder, brother; Morgenröthe, morningdawn; anbricht, appears, breaks in, pres. ind. of anbrechen*; rief, exclaimed; fröhlich, cheerfull; Unschuld, innocence; die Welt, the world; preiset, will praise, present for the fut.; Freund, friend; Wohlthäter, benefactor; welche Freu= de, what a joy; ungesehen, unseen; heimlich, secretly; Gutes zu thun, to do

desengel sah ihn mit stiller Wehmuth an, und eine Thräne, wie sie die Unsterblichen weinen, stand in seinem großen dunkeln Auge. „Ach,“ sprach er, „daß ich nicht, wie du, des fröhlichen Dankes mich freuen kann; mich nennt die Welt ihren Feind und Freudenstörer!" - "O mein Bruder," erwiederte der Engel des Schlafes, „wird nicht auch, beim Erwachen, der Gute in dir seinen Freund erkennen und dankbar dich segnen? Sind wir nicht Brüder und Boten eines Vaters ?"

So sprach er; da glänzte das Auge des Todesengels, und die brüderlichen Genien umarmten sich zärtlich.

Krummacher.

19. Die Geschichte des alten Wolfes,

in sieben Fabeln.

I.

Der böse Wolf war zu Jahren gekommen, und faßte den gleißenden Entschluß, mit den Schäfern auf gleichem Fuße zu leben. Er machte sich also auf und kam zu dem Schäfer, dessen Hürden seiner Höhle am nächsten waren.

"Schäfer," sprach er, du nennst mich den blutgierigen Räuber, der ich doch wirklich nicht bin. Freilich muß ich mich an deine Schafe halten, wenn mich hungert; denn Hunger thut weh. good; glücklich, happy; der Bote, the messenger; Veruf, vocation; sah ihn an, looked at him, from ansehen *; Wehmuth, sadness; Thräne, tear; die Unsterblichen, the immortals; weinen, weep; sie, them; stand, stood, from stehen*; groß, large; dunkel, dark; mich freuen, rejoice in, enjoy (gov. the gen.); Dank, thanks; nennen, to call; ihren, its; Feind, enemy; Freudenstörer, disturber of its joys; der Gute, the good man (Gr. p. 417, § 70); beim Erwachen, at his awakening; erkennen, recognize; dankbar, gratefully; segnen, bless; eines, of one; glänzen, to shine, gleam; umarmen, to embrace; fich is here equivalent to einander, each other, (see Gr. p. 428, obs. 4); zärtlich, tenderly.

19.

Geschichte, history; alt, old; sieben, seven; die Fabel, the fable; war zu Jahren gekommen, had arrived at old age, lit. had come to his years; faßte, made; gleißend, hypocritical, deceptive; Eutschluß, resolution; zu leben, of living (Gr. p. 474, § 170); auf gleichem Fuße, on a friendly footing; der Schäfer, the shepherd; sich aufmachen, to arise, set out; also, therefore; dessen, whose; Hürden, folds; am nächsten, nearest, superl. of nahe (Gr. p. 415, § 66 and § 68); seiner Höhle, to his den; blutgierig, bloodthirsty; Räuber, robber ; der, which; doch, yet; wirklich, in reality; sich an etwas halten, to depend, rely upon anything; mich hungert, I am hungry (Gr. p. 158, obs. A and B);

Schüße mich vor dem Hunger, mache mich nur satt, und du sollst mit mir recht wohl zufrieden sein. Ich bin wirklich das zahmste, sanftmüthigste Thier, wenn ich satt bin."

„Wenn du satt bist! das kann wohl sein," versehte der Schäfer. Aber wann bist du denn satt? Du und der Geiz werden es nie. Geh' deinen Weg!"

"

II.

Der abgewiesene Wolf kam zu einem zweiten Schäfer.

"Du weißt, Schäfer," war seine Anrede, „daß ich dir das Jahr durch manches Schaf würgen könnte. Willst du mir überhaupt jedes Jahr sechs Schafe geben, so bin ich zufrieden. Du kannst alsdann sicher schlafen und die Hunde ohne Bedenken abschaffen." "Sechs Schafe," sprach der Schäfer; das ist ja eine ganze Heerde!"

„Nun, weil du es bist, so will ich mich mit fünfen begnügen," sagte der Wolf.

"Du scherzest! fünf Schafe! mehr als fünf Schafe opfere ich kaum im ganzen Jahre dem Pan.“

"Auch nicht vier ?" fragte der Wolf weiter; und der Schäfer schüttelte spöttisch den Kopf.

"Drei? Zwei?"

"Nicht ein einziges !" fiel endlich der Bescheid. Denn es

"

denn, for; thut weh, is painful; schüße, protect, imper. 2d pers. sing. ; vor dem, against, article not translated; mache mich nur satt, lit. make me only satisfied, do but give me my fill to eat; zufrieden, satisfied; recht wohl, right well, very well; zahm, tame; sanftmüthig, gentle; satt bin, have had enough; kann, may; wohl, perhaps; denn, pray tell me; der Geiz, avarice; werden es nie, never become so, i. e. never can get enough—on the use of es see Gr. p. 109, obs.; Weg, way.

II.

Abgewiesen, repulsed, disappointed; weißt, from wissen*, to know; Anrede, address; manches, many a (Gr. p. 424, § 83, 3d); willst du mir... geben, if you will give me on the omission of wenn, if, and on so in the sentence following, see Gr. p. 251, obs. B.; überhaupt, in general; jedes, each; ist ja is best rendered by would be; nun, well then; weil, since; du es bist, it's you; so need not be translated (Gr. p. 271); sich mit etwas begnügen, to content one's self with anything; mit fünfen, with five (Gr. p. 422,'obs. 3); scherzen, to jest; kaum, scarcely; opfern, to offer, sacrifice; dem Pan, to Pan-among the ancients the tutelary divinity of shepherds; on the meaning of the article see Gr. p. 379, 6th; auch nicht, nor ... either; weiter, further; schütteln, to shake;

wäre ja wohl thöricht, wenn ich mich einem Feinde zinsbar machte, vor welchem ich mich durch meine Wachsamkeit sichern kann.“

III.

"Aller guten Dinge find drei," dachte der Wolf, und kam zu einem dritten Schäfer.

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"Es geht mir recht nahe," sprach er, daß ich unter euch Schäfern als das grausamste Thier verschrieen bin. Dir, Montan, will ich jezt beweisen, wie Unrecht man mir thut. Gib mir jährlich ein Schaf, so soll deine Heerde in jenem Walde, den Niemand unsicher macht als ich, frei und unbeschädigt weiden dürfen. Ein Schaf? Welche Kleinigkeit! Könnte ich großmüthiger, könnte ich uneigennüßiger handeln? Du lachst, Schäfer? Worüber lachst du denn?"

über nichts. Aber wie alt bist du, guter Freund?" sprach der Schäfer.

Was geht dich mein Alter an? Immer noch jung genug, dir deine jüngsten Lämmer zu würgen."

"Erzürne dich nicht, alter Isegrimm! Es thut mir leid, daß du mit deinem Vorschlage einige Jahre zu spät kommst.

Deine

spöttisch, scoffingly ; den Kopf, his head; ein einziges, one, a single one; fiel endlich der Bescheid, was the final reply; ja wohl, indeed; thöricht, foolish; mich zinsbar machte, should make myself tributary; vor, against; sichern, to secure, protect; durch, by; Wachsamkeit, vigilance.

III.

Aller guten Dinge sind drei, a proverb, lit. of all good things there are three, the number three is always lucky; dachte, imperf. of denken*, to think; es geht mir recht nahe, it grieves me to my very heart; unter, among; verschrieen, perf. part. of verschreien*, to decry; grausam, fierce; Montan, name of the shepherd; beweisen, to prove; wie, how very much; man, one, people; Jemandem Ünrecht thun*, to do injustice to, to wrong any one; gib, imper. of geben*, to give; so, and then (Gr. p. 271); soll... dürfen, shall be permitted; weiden, to graze; frei, free; unbeschädigt, unharmed; jenem, yonder; Walde, wood; den, which; unficher, insecure; als ich, except myself; Kleinigkeit, trifle; könnte, could; handeln, to act; großmüthiger, more generously; uneigennüßiger, more disinterestedly; lachen, to laugh; worüber, why, what... at; denn, pray; über, at ; alt, old; was geht dich mein Alter an? what is my age to you? jung genug, young enough; immer noch, yet; erzürne dich nicht, don't get angry imper. of sich erzürnen ; Isegrimm, an appellation given to wolves; es thut mir leid, I am sorry (Gr. p. 233) ; zu spät kommst, come (are) too late; Vorschlag, proposition; einige, sev eral; ausgebissen, perf. part. of ausbeißen*, to bite out, to lose (by biting); der

ausgebissenen Zähne verrathen dich. Du spielst den Uneigennüßigen, blos um dich desto gemächlicher und mit desto weniger Gefahr nähren zu können.“

IV.

Der Wolf ward ärgerlich, faßte sich aber doch und ging zu dem vierten Schäfer. Diesem war eben sein treuer Hund gestorben, und der Wolf machte sich den Umstand zu Nuße.

"Schäfer," sprach er, ich habe mich mit meinen Brüdern im Walde veruneinigt, und so, daß ich mich in Ewigkeit nicht wieder mit ihnen aussöhnen werde. Du weißt, wie viel du von ihnen zu fürchten hast. Wenn du mich aber anstatt deines verstorbenen Hundes in den Dienst nehmen willst, so stehe ich dir dafür, daß sie keines deiner Schafe auch nur scheel ansehen sollen."

"Du willst sie also," verseßte der Schäfer, "gegen deine Brüs der im Walde beschützen ?"

"Was meine ich denn sonst? Freilich."

„Das wäre nicht übel. Aber wenn ich dich nun in meine Hürden einnähme, sage mir doch, wer sollte alsdann meine armen Schafe gegen dich beschüßen? Einen Dieb ins Haus nehmen, um vor den Dieben außer dem Hause sicher zu sein, das halten wir Menschen . . . .“

Zahn, the tooth; verrathen, betray; spielen, to play, act the part of; den Uneigennützigen, the disinterested one; blos, simply; um... zu können, in order to be able; sich nähren, to support one's self; desto, so much the . . . ; gemächlich, comfortably; weniger, less; Gefahr, danger.

IV.

...

Ward, became; ärgerlich, angry, fretful; sich fassen, to compose one's self, muster courage; ging, from gehen*, to go; diesem war eben . gestorben (from fterben*), lit. to this one had just died, he had just lost; treu, faithful; sich et= was zu Nuze machen, to avail one's self of anything, turn it to advantage; Umstand, circumstance; sich veruneinigen, to fall out, quarrel; so, in such a manner; in Ewigkeit nicht wieder, never again; mich... aussöhnen werde, shall become reconciled; wenn du aber... willst, but if you will; mich... in den Dienst nehmen, take me into your service; verstorben, deceased; so, in that event, need not be translated (Gr. p. 271); stehe ich dir dafür, I'll warant you; daß sie, that they, i. e. the wolves; auch nur scheel ansehen sollen, shall not even look askance (with evil intent) at; keines, any one-the negative involved in fein must be taken with the verb; beschüßen, protect; sie, them, i. e. my sheep; also, then; gegen, against; was... sonst, what else; meinen, to mean; wäre nicht, would not be; übel, bad; einnähme, imperf. subj. of einnehmen*, to take into, to receive ;

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