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„Ich höre schon," sagte der Wolf, „du fängst an zu moralisiren. Lebe wohl!“

"

V.

Wäre ich nicht so alt!" knirschte der Wolf. „Aber ich muß mich leider in die Zeit schicken." Und so kam er zu dem fünften Schäfer.

"Kennst du mich, Schäfer?" fragte der Wolf.

"Deines Gleichen wenigstens kenne ich," verseßte der Schäfer. "Meines Gleichen? daran zweifle ich sehr. Ich bin ein so sonderbarer Wolf, daß ich deiner und aller Schäfer Freundschaft wohl werth bin.“

"Und wie sonderbar bist du denn ?".

"Ich könnte fein lebendiges Schaf würgen oder fressen, und wenn es mir das Leben kosten sollte. Ich nähre mich blos mit todten Schafen. Ist das nicht löblich? Erlaube mir also immer, daß ich mich dann und wann bei deiner Heerde einfinden und nachfragen darf, ob dir nicht . .. .“

"Spare der Worte!" sagte der Schäfer. Du müßtest gar keine Schafe fressen, auch nicht einmal todte, wenn ich dein Feind nicht sein sollte. Ein Thier, das mir schon todte Schafe frißt, lernt leicht aus Hunger kranke für todt, und gesunde für krank

sage mir doch, pray tell me ; alsdann, in that case, then; nehmen, to take, comes in first; ins, into one's; Haus, house; um, in order to; sicher, safe; vor, against; außer, without; halten, deem; schon need not be rendered; fängst an, from anfangen*, to begin (Gr. p.-81); moralisiren, moralize; Lebe wohl, farewell.

V.

Wäre ich nicht, would that I were not; knirschte, said indignantly; leider, alas; mich schicken, adapt myself; in die Zeit, to the times; deines Gleichen, your equals, those like you; wenigstens, at least; daran, of that, that; zweifeln, to doubt; sehr, very much ; ein so, such a; sonderbar, singular; werth, worthy; deiner Freundschaft, of your friendship-before aller supply that; lebendig, living ; wenn, if; kosten, cost; mir das, me my; sich nähren ... mit, to live upon; löblich, praiseworthy; erlauben, to allow; daß ich ... darf (dürfen*), lit. that I may be permitted, i. e. the privilege; mich einfinden, of being present, calling; bei, on; dann und wann, now and then, occasionally; und nachfragen, and of asking; ob, whether; sparen, to save, spare; der, your; du müßtest, imperf. subj. of müssen*, it would be necessary for you; gar keine, no-at all; auch nicht einmal, not even; tødte, dead ones; wenn ich nicht....... sein sollte, if I were not to be; das, which; mir is here expletive; schon, already; frißt, pres. indic. of fressen* ;

ansehen. Mache auf meine Freundschaft also keine Rechnung und geh'!"

VI.

„Ich muß nun schon mein Liebstes daran wenden, um zu meinem pecke zu gelangen!" dachte der Wolf und kam zu dem sechsten Schäfer.

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"Schäfer, wie gefällt dir mein Pelz ?" fragte der Wolf.

"Dein Pelz?" sagte der Schäfer. Laß sehen! Er ist schön; die Hunde müssen dich nicht oft unter gehabt haben.“

"Nun so höre, Schäfer; ich bin alt, und werde es so lange nicht mehr treiben. Füttere mich zu Tode, und ich gebe dir den

Pelz."

"Ei, sieh doch!" sagte der Schäfer. "Kömmst du auch hinter die Schliche der alten Geizhälse? Nein, nein; dein Pelz würde mich am Ende siebenmal mehr kosten, als er werth wäre. Ist es dir aber ein Ernst, mir ein Geschenk damit zu machen, so gib mir ihn gleich jeht." Hiermit griff der Schäfer nach der Keule, und der Wolf floh.

VII.

"O die Unbarmherzigen!" schrie der Wolf und gerieth in die äußerste Wuth. "So will ich auch als ihr Feind sterben, ehe mich der Hunger tödtet; denn sie wollen es nicht besser !"

lernt leicht, easily learns; ansehen . . . für, to regard . . . as, take . . . for; kranke, sick ones; gesund, healthy; mache ... also keine Rechnung auf, do not therefore calculate upon.

VI.

Schon, unquestionably; daran wenden, expend, sacrifice; mein Liebstes, that which is dearest to me; zu gelangen, to attain ; Zweck, purpose; dachte, imperf. of denken*, to think; wie gefällt dir, how do you like; gefallen, to please, governs the dat of the person; Pelz, skin; laß sehen, let see; er, it, i. e. der Pelz; müsfen... nicht, cannot; unter gehabt haben, lit. have had you under, i. e. toused you; vft, often; werde es so lange nicht mehr treiben, shall not carry on matters, i. e. shall not live much longer thus; füttern, to feed; gebe, will give, pres. for the future; ei, sich doch, do but see; kömmst du auch hinter, do you also get behind, i. e. have you too learned; die Schliche, tricks; Geizhals, miser; würde kosten, 1st conditional, would cost; am Ende, in the end; siebenmal, seven times; wäre, is; ist es dir aber Ernst, for: wenn es dir aber Ernst ist, Gr. p. 251, obs. B., if you are in earnest (in your intention to); Geschenk, present; damit, of it— on the use of these pronominal adverbs, which is very extensive in German, see Gr. p. 429, obs. 6, and p. 479; gleich jetzt, immediately, now; hiermit, whilst saying this; griff nach, seized, from greifen*; der Keule, the club, dat. case gov. by nach; entfloh, imperf. of entfliehen*, to make one's escape.

Er lief, brach in die Wohnungen der Schäfer ein, riß ihre Kinder nieder, und ward nicht ohne große Mühe von den Schäfern erschlagen.

Da sprach der weiseste von ihnen: „Wir thaten doch wohl Unrecht, daß wir den alten Räuber auf das Aeußerste brachten, und ihm alle Mittel zur Besserung, so spät und erzwungen sie auch war, benahmen." G. C. Lessing.

20. Die vier Jahreszeiten.

"Ach, wenn's doch immer Winter bliebe!" sagte Ernst, als er einen Mann von Schnee gemacht hatte und im Schlitten gefahren war. Sein Vater sagte, er möchte diesen Wunsch in seine Schreibtafel schreiben; und er that's. - Der Winter verging, es fam der Frühling. — Ernst stand mit seinem Vater bei einem Blumenbeete, auf welchem Hyazinthen, Aurikeln und Narzissen blüheten, und war vor Freuden ganz außer sich. "Das ist eine Freude des Frühlings," sagte sein Vater, und wird wieder vergehen.“ — „Ach,“ antwortete Ernst, „wenn's doch immer Frühling

VII.

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Unbarmherzig, ruthless; gerieth, imperf. of gerathen*, to get into ; äußerst, utmost, greatest; Wuth, rage; so, then; sterben*, die; ehe, before; der not translated; tödten, to kill ; lief, imperf. of laufen*, to run; brach ... ein, from einbrechen*, to break into; riß nieder, imperf. of niederreißen*, to pull, throw down; ward erschlagen, was slain; ohne, without; Mühe, difficulty; der weiseste, the wisest one; thaten, did, from thun*; Unrecht, wrong; doch, after all; wohl, perhaps; daß wir brachten (from bringen*), that we reduced, i. e. in reducing ; auf das Aeußerste, to the utmost; und ihm . . . benahmen, and in cutting him off from; Mittel, means; zur Besserung, for amendment; so... auch, however; erzwungen, forced, affected.

20.

Die Jahreszeit, the season; ach, wenn'e doch . . . bliebe, would that it might remain; bliebe, imperf. subj. of bleiben*; Winter, winter; Ernst, Ernest, proper name; als, when; gemacht hatte, pluperf. ind. of machen, to make; Mann, man; von Schnee, of snow; gefahren war, pluperf. ind. of fahren*, to take a ride; Schlitten, sleigh; sagte, er möchte, lit. said he might, i. e. desired him; schreiben*, to write ; Wunsch, wish; Schreibtafel, memorandum-book; that's (or that es), did so; verging, imperf. of vergehen*, to pass away; es is not rendered, Gr. p. 429, obs. 7; Frühling, spring; stand, imperf. of stehen*, to stand; Vater, father; bei, near; Blumenbeet, flower-bed; blüheten, were blooming; die Hyazinthe, the hyacinth; die Aurikel, the auricula; die Narzisse, the narcissus; war ... ... ganz außer sich, was entirely besides himself; vor Freuden,

wäre!"Schreibe diesen Wunsch in meine Schreibtafel," sag= te der Vater; und er that's. — Der Frühling verging, es kam der Sommer.

Ernst ging mit seinen Eltern und einigen Gespielen an einem warmen Sommertage nach dem nächsten Dorfe, und sie blieben daselbst den ganzen Tag. Rund um sich her sahen sie grüne Saaten und Wiesen, mit tausendfältigen Blumen geziert, und Auen, auf welchen junge Lämmer tanzten, und muthwillige Füllen ihre Sprünge machten.— Sie aßen Kirschen und anderes Sommerobst, und sie ließen sich's den ganzen Tag über recht wohl sein. "Nicht wahr," fragte der Vater beim Zurückgehn, der Sommer hat doch auch seine Freuden ?" — "," antwortete Ernst, „ich wollte, daß es immer Sommer wäre!". Er mußte auch dieses in die Schreibtafel seines Vaters schreiben.

Endlich kam der Herbst. Die ganze Familie brachte einige Tage im Weinberge zu. Es war nicht mehr so heiß als im Sommer; aber die Luft war sanft und der Himmel heiter. Die Weinstöcke waren mit reifen Trauben behangen; auf den Mistbeeten sah man wohlschmeckende Melonen liegen, und die Zweige der Bäume waren von reifen Früchten niedergebeugt. Das war

for joy; wird vergehen, 1st fut. ind.; wenn's doch wäre, would that it were; Eltern, parents, used only in the pl. (Gr. p. 390, § 27); einige, a few, several; der Gespiele, the playmate; Sommertage, summer-day; nach, to; Dorfe, village; blieben, imperf. of bleiben*; daselbst, there; rund um sich her, all around them; fahen sie, they saw-on the transposition of the subject see Gr. p. 360, 5th; grün, green; die Saat, the corn (standing in the field), cornfield; die Wiese, the meadow; geziert, perf. part. of zieren, to adorn; tausendfältig, thousandfold; die Aue, pasture; tanzten, were dancing, from tanzen; muthwillig, wanton; das Füllen, the foal; ihre Sprünge machten, were springing, skipping about; aßen, imperf. of essen*, to eat; die Kirsche, the cherry; Sommerobst, summer-fruit; ließen (imperf. of lassen*) sich's recht wohl sein, enjoyed themselves right well; den ganzen Tag über, all day long; nicht wahr, is it not true, don't you think; fragen, to ask; beim Zurückgehen, on their return; doch auch, after all too; ich wollte, I could wish; mußte, was obliged; schreiben, on the position of the infin. at the end see Gr. p. 358, 3d; endlich, at last; der Herbst, autumn; Familie, family; brachte... zu, imperf. of zubringen*, to spend; der Weinberg, the vineyard; heiß, hot; Luft, air; sanft, mild; Himmel, heaven; heiter, clear; der Weinstock, the vine; behangen, hung with; reif, ripe; die Traube, the grape; das Mistbeet, the hotbed; sah man liegen, one saw lying, were seen lying; wohlschmeckend, savoury; die Melone, the melon; der Zweig, the bough ;

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erst ein Fest für unsern Ernst, der nichts lieber als Obst aß. „Die schöne Zeit," sagte sein Vater, wird bald vorüber sein; der Winter ist schon vor der Thür, um den Herbst zu vertreiben." "Ach," sagte Ernst, ich wollte, daß er wegbliebe, und daß es immer Herbst wäre!" — „Wolltest du das wirklich?“ fragte sein Vater. -11 •„Wirklich!“ war seine Antwort. — „Aber,“ fuhr sein Vater fort, indem er die Schreibtafel aus der Tasche zog, "sich doch einmal, was hier geschrieben steht; lies doch." "Ich wollte, daß es immer Winter wäre !"". -Und nun lies einmal hier auf dieser Seite, was steht denn da?"— „,„Ich wollte, daß es immer Frühling wäre !” — „Und was auf dieser Seite hier ?" "Ich wollte, daß es immer Sommer wäre !" „Kennst du,“ fuhr er fort, „die Hand, die dieses geschrieben hat?" "Das habe ich geschrieben," antwortete Ernst. "Und was wünschtest du jezt eben?" "Ich wünschte, daß es immer Herbst sein möchte. "Das ist sonderbar genug," sagte der Vater.,,Jm Winter wünschtest du, daß es Winter, im Frühlinge, daß es Frühling, im Sommer, daß es Sommer, und im Herbste, daß es Herbst sein möchte. Denk' einmal nach, was felgt daraus?“ „Daß alle Jahreszeiten gut sind.“ — „Ja, daß sie alle reich an Freuden, reich an mannigfaltigen Gaben sind, und daß der liebe, große Gott viel besser, als wir armen Menschen, sich auf das Weltmachen verstehen muß. Hätt' es vorigen Win

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niedergebeugt, bent down, perf. part. of niederbeugen; erst, indeed, lit. first, implying that the previous ones were nothing compared with this; das Fest, the feast; der nichts lieber aß, who liked nothing so well-on the phrases gern essen, trinken, &c. see Gr. p. 149; lieber is the compar. of gern, Gr. p. 96; aß, imperf. of essen*; die schöne Zeit, this fair season; bald, soon; vorüber, over ; vor der Thür, near at hand; vertreiben, drive away; wegbliebe, would stay away, imperf. subj. of wegbleiben*; wolltest du das? do you wish so? fuhr. . . ført, imperf. of fortfahren*, to continue; indem er zog (ziehen*), whilst he took (drew), or by the pres. part. taking; aus der Tasche, out of his pocket; sieh' (se= hen*) doch einmal, look here one moment; hier, here; geschrieben (perf. part. of schreiben*) steht, is written; lies doch, pray read, imper. of lesen*; einmal, lit. once, need not be translated; Seite, page; was steht denn da? what is written there, pray? Hand, hand; wünschen, to wish ; jetzt eben, just now ; sonderbar genug, singular enough; denk nach, reflect, think, from nach denken*; folgen, to follow; daraus, therefrom, from this; reich an, rich in; mannigfaltig, manifold, various; die Gabe, gift, blessing; liebe, this is a standard word in familiar phrases, and often, as here, a mere expletive; sich... verstehen muß,

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