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rarischen Interessen, trotz mannigfacher Ansätze und trotz Coleridge; und es ist bezeichnend, dafs Walter Scott, trotz seiner Beschäftigung mit der deutschen Litteratur, von allen bedeutenden Dichtern des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts vielleicht der national beschränkteste zu nennen ist und wohl gerade deshalb von den Romantikern bis heute der gelesenste. Diese Thatsache ist von weit gröfserer Tragweite für das gesamte geistige Leben der beiden Nationen, als man gemeinhin annimmt, denn es bedarf hier keiner weiteren Ausführung, wie mit diesem deutschen Begriffe der Weltlitteratur die Universalität der deutschen Wissenschaft und Bildung überhaupt Hand in Hand ging, Faktoren, denen in unserem Jahrhundert in erster Linie der politisch-wirtschaftliche Aufschwung zu danken war. Während die Reliques gewissermalsen den Höhepunkt des englischen Einflusses auf Deutschland im 18. Jahrhundert bezeichnen, bedeuten sie für England im Vergleiche zu Deutschland alsbald ein Zurückbleiben, ein Zurückbleiben hinter dieser deutschen Universalität im beschränkt Nationalen, das zwar tief im englischen Wesen begründet war und nicht ohne weiteres als ein Nachteil bezeichent werden soll, das aber doch die Erklärung für die Weiterentwicklung der englischen Litteratur und ihr geändertes Verhältnis zur deutschen in sich trägt. Insofern also ist das Jahr 1765 mit dem Erscheinen der Reliques als ein Markstein in der Geschichte der englischen und deutschen Litteratur zu erkennen.

Zweitens ist Percy charakteristisch für die englische Litteratur seiner Zeit in seinem Verhältnisse zur Kunstpoesie. Man mag es dem geistlichen Herrn zu Gute halten, dafs er sich immer wieder und wieder entschuldigen zu müssen glaubte (s. z. B. 8, 2 ff.; 8, 11 ff.; 11, 16 ff.; 812, 34; 818, 28 u. ö. u. ö), mit solchen Dingen überhaupt sich beschäftigt zu haben, obwohl er gewifs einen Scherz nicht nur zu gouțieren verstand, sondern auch ohne Not sich gestattete 1).

1) So wenn er z. B. 80, 16 in Rob. Hood a. Guy of G. die handschriftliche Lesart des Folio MS. „did cleaue his heart in twinn" in die Worte,,He shott him into the 'backe'-syde" änderte, wozu die originelle Bemerkung unseres trefflichen Furnivall (PFM. II, 237) zu amüsant ist, um hier fortzubleiben: „Too bad, Bishop! And to put your inverted commas too, as if you'd only altered the one

Jedoch zeigt die Aufnahme einer Unzahl moderner Dichtungen von mehr als fraglichem litterarischen Werte, sowie seine Äufserungen über die Kunstpoesie seiner Zeit eine Schwäche, zu der die revolutionäre Tendenz der englischen Stürmer und Dränger in schroffstem Gegensatze steht. So wenn er die Aufnahme der Not-browne Mayd damit rechtfertigen zu müssen glaubt (285, 31), dafs wir diesem Gedichte die Anregung zu Prior's Henry and Emma verdanken. Er sagt sogar ausdrücklich (8, 11), dafs er moderne Dichtungen „to atone for the rudeness of the more obsolete poems", also gewissermassen zum Zeichen, wie herrlich weit man es seither gebracht, aufnahm. Ob das Percy's wirkliche Ansicht oder nur eine Konzession an das Publikum seiner Zeit gewesen, sei hier nicht untersucht; es war wohl zur Hälfte beides, drückte jedenfalls seinen konservativen Standpunkt unzweideutig aus, und darin ist er charakteristisch für seine Landsleute, die jähe Übergänge nicht vertragen. Charakteristisch ist er aber zugleich für seine Zeit in seinen antiquarischen Interessen, für die Zeit der Wiedererweckung Shakespeares und der älteren englischen Litteratur. Es geht diese Richtung mit der an dritter Stelle genannten, der litterarhistorischphilologischen eigentlich Hand in Hand. Die Reliques sind, und das mufs auf das Nachdrücklichste hervorgehoben werden, weil sie in ihrem Einflusse auf Deutschland vornehmlich das Interesse am Volksliede betrafen, durchaus nicht vorwiegend eine Volksliedersammlung. Die Begriffe Volkslied und altertümliches Lied wurden zwar vielfach durcheinander geworfen, jedoch Percy ist dafür nicht verantwortlich zu machen; auch der Titel giebt dafür keine Veranlassung. Es kam Percy darauf an, an der Hand der Geschichte der englischen Poesie den Beweis zu liefern, dass nicht erst in neuester Zeit Poesie zu finden und alles Ältere nur roher, wertloser ancient, Gothic, barbarous Plunder gewesen sei; seine Reliques sind daher ein Bilderbuch der englischen Volkspoesie und Kunstpoesie und zwar von den frühmittelenglischen Zeiten an. Deshalb bringt er politische Lyrik des 13. 14. Jahrhunderts,

word 'backe'." Natürlich mufste dann Anastasius Grün in seiner herrlichen Übersetzung die Stelle auch ganz harmlos verdeutschen: Klein John mit breitem Bolzen traf Ihn noch ins Hinterteil.

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bringt Chaucer, Earl of Rivers, bringt Skelton, Hawes, Henrysoun, Jacob V. von Schottland, Spenser war ja so sehr im Mittelpunkt des litterarischen Interesses, dafs er nicht erst der Neuer weckung durch die Reliques bedurfte Gascoigne, Lily, Richard Edwards, Marlowe, Lord Vaux, Königin Elizabeth und Jacob I., Edward Vere, Daniel, Drayton, Warner, Beaumont and Fletcher, Ben Jonson, Sir Walter Raleigh, Deloney und Elderton, König Karl I., Wither, Carew, Lovelace, Suckling, Corbet, Shirley, Tom d'Urfey, Grubb, Glover, Shenstone, Harrington, Hamilton, Grainger, Mallet, die zahlreichen poetischen Florilegien und Einzelballaden des 16., 17., 18. Jahrhs., in denen sich Volkstümliches und Klassizistisches so ziemlich die Wage hielten. Dem empfänglichen Publikum kam es aber überhaupt gar nicht so sehr darauf an, ob das Gebotene echt volkstümlich war oder nicht, wenn es nur wenigstens den Schein oder einige Wahrscheinlichkeit der Altertümlichkeit hatte im Gegensatze zu der klassizistischen Poesie des Tages; fehlte doch aus begreiflichen Gründen auch noch der kritische Mafsstab, den erst die systematischphilologische Beschäftigung mit Sprache und Litteratur bieten konnte. So ist es charakteristisch für die Zeit, dass das Gefühl für echt und unecht noch höchst unsicher war; begabte Dichter hatten schon lange vorher, in mehr oder minder glücklicher Nachahmung echter Volkslieder Nachahmungen und Falsifikate geliefert, die, da sie zum Teil den volkstümlichen Ton mit Geschick trafen oder die Dunkelheit, mysteriöse, ahnungerregende Unverständlichkeit überlieferter Fragmente mit virtuoser Manier kopierten, von grofser Wirkung sein mufsten. Wir lächeln heute über ein Machwerk wie Hardyknute, bei dem wir auf Schritt und Tritt die künstliche Mache und verborgene Absicht erkennen; jemand, dem die einschlägige Litteratur zu Gebote steht, dürfte unschwer die geschickte Mosaikarbeit auf ihre Quellen zurückführen können 1). Doch dies galt noch nicht für das

1) So sei hier nur bemerkt, dafs die unter dem Titel Promptorium Parvulorum bekannte englisch-lateinische Wörtersammlung (hrsg. v. Albert Way, Camden Society 1865) hiebei als Hülfsmittel gedient haben dürfte, indem einige der zahlreichen dunkeln Ausdrücke im Hardyknute daraus eine überraschende Erklärung finden. 332, 5 begegnet das sonst nicht bekannte Wort harnisine in der Bedeutung Harnisch; im Prompt. Parv. lesen wir Harneysyñ' or a-rayyñ' wythe harneys

18. Jahrhundert; man lechzte nach den Schauern und Mysterien der Romantik und war von vorneherein dafür gewonnen; wenn uns durch die Fortschritte der Kritik natürlich nicht nur das Interesse, sondern auch der harmlose Genufs an dem Gedichte etwas verleidet wird, konnte doch Walter Scott sagen "Hardyknute was the first poem I ever learnt the last that I shall forget." Dies ist eine Erscheinung, die für das Verhältnis von Volkspoesie und Kunstpoesie überhaupt bezeichnend ist.

Wenn wir nach der einfachsten Definition des Volksliedes suchen, so finden wir sie in der englischen Bezeichnung „Popular Song"; das, was volkstümlich ist im weitesten Sinne, d. h., was wenigstens zu einer bestimmten, wenn auch vorübergehenden Zeit den allgemeinen Geschmack trifft, kann im weiteren Sinne als Volkslied gelten; dahin gehören die meisten broad-sides, die Balladen auf einzelne Zeitereignisse, die jeweils von allgemeinerem Interesse waren und heute als Zeugnisse für jene Interessen und Geschmacksrichtungen von Wichtigkeit sind zu solchen können auch Produkte der Kunstpoesie werden, und zu einer Zeit, in der die Gegensätze zwischen Volkspoesie und Kunstpoesie weniger schroff sind, sind ihre Erzeugnisse oft schwer auseinanderzuhalten; lehrreich ist dafür die Zeit Shakspere's, geradeso wie heute unsere Zeit künstlicher Schnadahüpfeln; das Lied Willow, Willow, Willow (No. 20) erweist sich durch die meisterhafte Verwertung in Shakspere's Othello unleugbar als Volkslied, richtiger volkstümliches Lied, obwohl es ganz im Geschmacke der Kunstpoesie abgefafst ist. Volkstümliches Lied im weiteren Sinne ist also alles, was

and wepyne (harneysyn or armyn. Pynson.) Armo; dies fafste der (männliche oder weibliche) Fabrikator als ein Substantiv auf, oder, wenn harnisine im Hardykn. etwa ursprünglich als Verb gefasst sein sollte, als die 1. Sg. Präs. (bez. den Imperativ) = lat. armo. Ebenso 333, 4 Full lowns the shynand day, was Percy mit blazes erklärt; an das schottische to loun, beruhigen ist wohl hier kaum zu denken; doch was soll lown sein, das in der Bedeutung flammen, scheinen, sonst nicht bezeugt ist? wieder hilft das Prompt. Parv. Lowyn, or flamyn as fyyr. Flammo; das ME. nördl. Verb lowe(n) - AN. loga ist bekannt, der Fabrikator aber hielt wieder das Endungs-n als zum Stamme gehörig. Welche Mittelglieder hier etwa noch vorlagen, liefse sich natürlich nur an englischen Bibliotheken untersuchen. Der Umstand, dass das Prompt. Parv. aber gerade in den Jahren 1700, 1708, 1710, 1716 Neudrucke erlebte, ist für die ausgesprochene Vermutung nicht ohne Bedeutung.

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dem Volke gefällt und vom Volke so aufgenommen und weitergesungen wird, dafs alles, was blofs individuellen Geschmack verriete, abgeschliffen wird. Daher ist auch dieses Volkslied im weiteren Sinne, in dem die Individualität eines einzelnen Dichters nicht zur Geltung kommt, sondern an ihrer Stelle die des betreffenden Volkes, für die Beurteilung des Nationalcharakters allein von wirklichem Werte, und in gleicher Weise auch für die Beurteilung einer Zeit; es wird deshalb aber auch an Beliebtheit mit der Zeit verlieren und mit der veränderten Mode sich verändern oder verschwinden. Zu scheiden davon ist das Volkslied im engeren Sinne, das in seinen Motiven meist uralt, in der Regel in die Zeit vor der Sonderentwicklung der einzelnen Nationen zurückgeht und das eigentliche Thema der vergleichenden Litteraturgeschichte des Volksliedes bildet. Dieses echte Volkslied ist in seiner primitiveren und ursprünglicheren Empfindungsweise auch weniger dem wechselnden Zeitgeschmack unterworfen, deshalb aber auch weniger vom jeweiligen Zeitgeschmack begünstigt und so geschichtlich viel schwerer zu fixieren. Es wird, wo es erhalten bleibt, nicht veralten, sondern immer von neuem gefallen, jedoch weit weniger Anhaltspunkte für seine Entstehungsgeschichte bieten. Auch dieses Volkslied umfafst nicht allein prähistorische Motive, obwohl vieles darin in die ersten Stadien dichterischer Conception und Mythenbildung zurückreicht; es sind auch hier Lieder einzelner Berufskreise zu verzeichnen; da diese aber dann meist ursprünglich an ein historisches Faktum anknüpften, dessen Einzelheiten sich notwendig verwischen mussten, wenn es ein typisches Lied werden sollte, ist die zu Grunde liegende Fabel vielfach dunkel; nur einzelne besonders beliebte Motive bleiben oft erhalten, und in dieser nebelhaft verschwommenen, mysteriösen Unklarheit, in den Wirkungen auf unsere primitivsten Empfindungen liegt der eigentümliche Zauber, den diese Gattung ausübt; denn je primitiver und unausgesprochener ein künstlerisches Motiv ist, desto vielgestaltiger und fruchtbarer erweist es sich. Dies haben die Romantiker und zwar nicht erst die Romantiker des ausgehenden 18., sondern schon die ersten Fabrikatoren zu Anfang des 18. Jahrhunderts, richtig erkannt und trefflich verwertet. Hiebei ist nicht zu vergessen, dafs die Lieder gesungen wurden, und die Melodie, oft ein ganz primitives Motiv, ein Lied erhielt, oft ein Lied, dessen Einzel

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