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wieder zur hand. bei seiner vorliebe für Horaz und die römischen dichter war das meiste daher, und es fiel ihm auf, dasz die stellen gröstenteils bedauern vergangener zeit, vorübergeschwundner zustände und empfindungen andeuteten. statt vieler rücken wir die einzige stelle hier ein:

Heu!53

quae mens est hodie, cur eadem non puero fuit?
vel cur his animis incolumes non redeunt genae?

zu deutsch:

Wie ist mir heute doch zu muthe!
so vergnüglich und so klar!
da bei frischem knabenblute

mir so wild, so düster war.

doch wenn mich die jahre zwacken,
wie auch wohlgemuth ich sei,

denk' ich jener rothen backen,

und ich wünsche sie herbei!

die sehr freie übertragung ist gerade nicht sehr glücklich zu nennen, da sie zu weitschweifig ist und einen humoristischen ton trägt, der für die situation in dem Horazischen gedichte gar nicht passt.

Goethe hat zwar gerade über Horaz, wie überhaupt über die römische poesie keine besonders als solche in längerer auseinandersetzung von ihm bezeichneten aussprüche gethan, wie wir sie von ihm über griechische dichter Plato, Aristoteles, besonders über die griechischen tragiker u. a. teils in wissenschaftlichen abhandlungen, recensionen, teils in weiteren ausführungen in briefen (an Schiller), in gesprächen (mit Eckermann) besitzen. doch aber findet sich auch über Horaz des interessanten genug. am wichtigsten ist das urteil über Horaz, das er im november des jahres 1806, als er sich mit gedanken eines commentars zur ars poetica trug, im gespräche mit Riemer über diesen dichter fällte. 'sein poetisches talent anerkannt nur in absicht auf technische und sprachvollkommenheit d. h. nachbildung der griechischen metra und der poetischen sprache nebst einer furchtbaren realität, ohne alle eigentliche poesie, besonders in den oden'. zweierlei hebt Goethe hervor: 1) die nachahmung der griechischen metra und schaffung d. h. vervollkommnung der poetischen sprache der Römer. 2) eine realität, die er eine furchtbare nennt, ohne alle eigentliche poesie, besonders in den lyrischen gedichten. das erste verdienst liegt so klar auf der hand, ist von dem dichter selbst oft genug hervorgehoben worden, und so allgemein anerkannt, dasz wir darüber keine worte zu verlieren brauchen. was den zweiten punkt anbelangt, so enthält er ein lob und einen tadel zugleich. die realität d. h. die lebenswahrheit der Horazischen poesie, ihrer situationen, figuren, ebenso wie

53 Hor. od. IV 10.

54 Riemer mitteilungen über Goethe bd. II. I. dichter, 1) classische, a) Griechen, b) Römer.

Goethes urteile über s. 643. 644.

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die fülle treffender bemerkungen über die realität des lebens selbst, die wir in den satiren und episteln, aber auch in den oden und epoden bewundern, ist gerade dasjenige, was diese gedichte die jahrhunderte hat überdauern lassen und überdauern lassen wird. 'hat man doch .. aus der bibel, aus Horaz und Virgil denksprüche auf fast alle ereignisse des lebens', sagt Goethe selbst. 55 und es ist gerade die verstandesschärfe des dichters, die ihm anderseits den schwung der phantasie für das lyrische gebiet versagt, welche seinen werken diesen · den grösten vorzug verliehen hat, diese realität nennt Goethe nun eine furchtbare, so dasz fast alle poesie verschwindet. zwar ist nicht zu leugnen, dasz dies nur eine 'unverklärte' realität heiszen kann und einen starken tadel enthält; aber es ist doch offenbar, dasz dieser tadel ungerecht ist. abgesehen von mehreren stellen und gedichten, die meist zu seinen ersten versuchen gehören und die aicxpoλoría zeigen, kann man wahrhaftig nicht behaupten, dasz die gedichte des Horaz die crasse, etwa gar die gemeine wirklichkeit darstellen, ohne jemals zu veredeln. ja, wenn Horaz wirklich die realität furchtbar d. h. nackt malt, so idealisiert er sie stets durch eine köstliche gabe von humor; wenn wirklich z. b. die satiren, in denen uns soviel scenen aus dem römischen leben entgegentreten, dieses in 'furchtbarer realität' schilderten, so hätte ihre lectüre gewis nicht bei Goethe eine so grosze sehnsucht nach Rom hervorgerufen. 57

56

Goethe kam zu dieser harten und ungerechten beurteilung offenbar dadurch, dasz er in dem augenblicke, als er die worte sagte, nur Horazens lyrische gedichte im auge hatte und unter einem dichter einen lyriker verstand. 58

Was sonst über Horazens talent, über seinen charakter als dichter und mensch, über seine darstellungsweise gesagt ist, ist zwar auch nur gelegentlich geäuszert, aber doch so richtig und maszvoll, dasz wir es nur unterschreiben können.

In der denkrede auf Wieland (1813) vergleicht Goethe den römischen dichter mit jenem, ein vergleich, der beiden die richtige stellung in der litteratur ihrer nationen gibt. denn ebenso wenig wie Wieland hatte Horaz hohen poetischen schwung oder gar himmelanstürmendes genie. auch Horaz ist wie Wieland 'hof- und welt

55 Goethes unterhaltungen mit dem kanzler v. Müller, sonnabend d. 14 febr. 1824, s. 80. 56 viele stellen in sat. I 2; sat. I 8. sat. I 3, 90. sat. I 5,

84. 85 u. a.

57 vgl. oben brief aus Venedig aus dem jahre 1786.

5% Teuffel (charakteristik des Horaz, Leipzig 1842), dessen ansichten über Horaz sonst meist zu billigen sind, und dem das verdienst gebührt, der überschwänglichen Horazschwärmerei besonders betr. der oden zum ersten male die gehörigen schranken gesetzt zu haben hat mit unrecht hier auf Goethes worte allzu sehr geschworen (s. 89). hätte er alle andern von uns beigebrachten äuszerungen gekannt und in betracht gezogen (z. b. die parallele mit Wieland), so hätte er gesehen, wie diese mit der 'furchtbarkeit der realität sich widerspricht.

ver

mann, ein verständiger beurteiler des lebens und der kunst.' freilich fehlt dem gutmütigen Wieland doch teils jene feine ironie, teils jener verletzende, grobe sarcasmus, mit dem Horaz die schwächen der menschen und besonders die seiner zeit geiszelt. deswegen wegen seiner stellung zu seiner zeit und über seiner zeit gleicht ihn Goethe auch mit Hafis, wie er auch an einer andern stelle Horaz und Hafis 59 neben Beranger stellt. beide standen über ihrer zeit und brachten die sitten verderbnis spielend und spottend zur sprache.' - 'Hafis und Horaz haben eine auffallende ähnlichkeit in den ansichten des lebens; dies möchte einzig nur durch die ähnlichkeit der zeitalter, in welchen beide gelebt, wo, bei zerstörung aller sicherheit des bürgerlichen daseins, der mensch sich auf flüchtigen, gleichsam im vorübergehen gehaschten genusz des lebens beschränkt, zu erklären sein.' — Zu dieser nebeneinanderstellung muste Goethe übrigens einfach schon dadurch veranlaszt werden, dasz in der ausgabe der gedichte des Hafis von Hammer', die er bekanntlich benutzte, oft genug lateinische verse aus den gedichten des Horaz (übrigens auch verse aus Anakreon, Properz, Vergil u. a.) als parallelstellen wörtlich angeführt werden. die ähnlichkeit der ansichten zeigt sich bei Horaz und Hafis auch noch in der neigung zum fröhlichen genusz des weines und der liebe, um die sorgen zu verscheuchen und mit gleichmut sich in das zu fügen, was geschehen, da uns nicht die wahl gegeben ist.

62

Noch bemerkenswerter aber ist es, wenn Goethe moderne empfindungen und denkweise bei Horaz hervorhebt, so 1822 in einer recension der tragödie Adelchi (vorrede zu 'opere poetiche di Alessandro Manzoni'). hier führt er aus, dasz die höchste lyrik entschieden historisch sei; man versuche die mythologisch-geschichtlichen elemente von Pindars oden abzusondern, und man wird finden, dasz man ihnen durchaus das innere leben abschneidet.' deshalb verzweifle Horaz, den Pindar nachzuahmen (carmen IV 2), weil ihm diese historische grundlage fehle, und in dieser verzweiflung sei er elegisch, wie die moderne lyrik, indem er aber gerade wie diese durch die klage über den mangel den mangel selbst verdecken wolle.

Dieselbe moderne denkart findet Goethe auch in dem anfang der zweiten epode. 'Horaz empfand Tibur moderner, als wir Tivoli. das beweist sein beatus ille qui procul negotiis.' 63 allerdings ist auch

59 Eckermann 29 januar 1827.

es

60 noten und abhandlungen z. westöstlichen divan. warnung. sind worte eines kenners', die Goethe aber anstandslos aufgenommen hat und so auch für richtig hält. die worte sind von uns frei wiedergegeben.

61 der Divan von Mohammed Schemsed-din Hafis. aus dem arabischen usw. von Joseph v. Hammer. 1812. 1813. 2 bde.

62 vgl. Hafis I. XIII s. 62. 63 und Hor. carm. III 29, 33. 34 ff. und III 29, 45 ff.

63 vgl. Winkelmann Rom. der ganze abschnitt ist versehen mit,, “"; er rührt von Wilh. v. Humboldt her.

ihm schon jene sentimentale flucht aus der cultur zur natur, aus dem geräuschvollen leben der stadt in die einfachheit des landlebens ein bedürfnis und eine notwendigkeit. seine sentimentalität zeigt sich übrigens nicht nur hierin, in dem lob des landlebens und der reize der natur (od. I 7, 12. od. II 6. sat. II 6 usw), sondern auch in vereinzelten trüben gedanken und stimmungen von ganz allgemeiner art, wie carm. II 14 (eheu, fugaces, Postume, etc.), in dem resignierten anfang von carm. IV 1, 1:

Intermissa, Venus, diu rursus bella moves? parce precor, precor. und in der oben erwähnten klage an Ligurinus, bis zu dem grade von weltschmerzlicher traurigkeit in II 6: ibi tu calentem debita sparges lacrima favillam vatis amici. — Es ist, soweit uns bekannt, ein verdienst Schillers auf diese modernen klänge in den Horazischen gedichten zuerst aufmerksam gemacht zu haben. schon ehe Goethe die oben angeführten worte (1804/5) schrieb, hatte Schiller in der abhandlung über naive und sentimentalische dichtung den Horaz 'den wahren stifter der sentimentalischen dichtungsart' genannt.

So vereinzelt alle diese äuszerungen stehen, so nebensächlich sie im augenblick erscheinen, so wird man doch, meinen wir, kaum ein wesentliches merkmal der Horazischen poesie vermissen; ja manches findet sich kaum oder gar nicht in neueren charakteristiken erwähnt, wie namentlich Horazens sentimentalität. “

Überblicken wir das gesagte noch einmal, so sehen wir, dasz Goethe in jeder epoche seines lebens und schaffens teils mit dem dichter sich eingehender beschäftigt teils ihn stets im auge behalten und seine poesie bei gelegenheit verwendet. von seinen schülerjahren an, in der zeit seines studiums zu Leipzig und Straszburg, während seiner Weimarischen dienstjabre, auf der italienischen reise und nachher während seines zusammenwirkens mit Schiller von 1794-1805 ist ihm Horaz stets ein begleiter und freund gewesen. das jahr nach Schillers tode 1806, november 1806, einige zeit nach dem unglückstage von Jena, hat er offenbar sich wieder mehr in den römischen dichter vertieft. aber auch später, als er 1813 die denkrede auf Wieland schrieb, als er seit 1813/14 sich der persisch-orientalischen poesie zuwandte und die noten und abhandlungen zum divan schrieb, später vom jahre 1818-1824, in einer zeit, wo er sich wissenschaftlich viel mit dem altertume beschäftigte, dann als er Wilhelm Meisters wanderjahre schrieb, umarbeitete und zum abschlusz brachte — überall begegnen wir spuren Horazischer poesie, nie ist ihm dieser dichter aus seinem litterarischen gesichtskreis verschwunden; selbst noch circa ein jahr vor seinem tode weist er in einem briefe an Zelter auf Hor. carm. IV 9, 25 hin.65

Bei dieser sachlage ist es nun nicht wunderbar, wenn in Goethischen dichtungen öfters teils wörtliche übertragungen Horazischer

64 so vermissen wir dieselbe bei Teuffel charakteristik; Weber (Jena 1844). Karsten übers. v. Schwach (Leipzig 1863).

65 br. an Zelter v. 1 febr. 1831. s. unten s. 284.

verse und worte teils freie nachahmungen derselben sich vorfinden. hatten wir oben solche stellen aus Goethes werken zusammengestellt, in denen nur ganz im allgemeinen auf Horazische verse hingewiesen wurde oder in denen sie einfach citiert wurden, so folgt nun eine zusammenstellung solcher stellen, in denen von einer nachahmung auch in den worten füglich gesprochen werden kann. Zunächst das bekannteste (grenzen der menschheit):

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das ist (aus Hor. car. I 1, 36) das 'sublimi feriam sidera vertice', hier wie dort gesagt vom übermute.

Röm. elegien XV:

"Gröszeres sahest du (die sonne) nichts und wirst nichts gröszeres sehen, wie es dein priester Horaz in der entzückung versprach. 66

Hor. carm, saec. v. 9, 12:

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Alme sol, possis nihil urbe Roma
visere maius.

Vier jahres

und das vatis Horati am schlusz von carm. IV 6, v. 44. zeiten: sommer nr. 24:

"Sorge, sie steiget mit dir zu rosz, sie steiget zu schiffe

Horat. carm. III 1, 37 ff.

Neque

decedit aerata triremi et

post equitem sedet atra cura,

daher auch im Faust die 'sorge' von sich sagt (Faust II. t. 5. act):

röm, elegien XIX:

Auf den pfaden, auf der welle,

ewig ängstlicher geselle, 67

Denn der könige zwist büszten die Griechen wie ich offenbar gesagt mit hinblick auf den bekannten vers (ep. I 2, 14): Quidquid delirant reges, plectuntur Achivi;

hieran ist um so weniger zu zweifeln, als Goethe diesen vers auch citiert mit bezug auf die neusten ereignisse im märz 1815, Napoleons rückkehr von Elba (brief an Voigt 22 märz 1815): 'und das neuste

von allen seiten höre ich chorus: plectuntur Achivi —.”

66 ob eine bewuste erinnerung gerade an Horaz hier anzunehmen ist, läszt die wandlung, die der text erfuhr, etwas zweifelhaft erscheinen. in den ersten ausgaben stand 'wie es dein priester Horaz', dann wurde dafür 'priester Properz' gesetzt, was auf Göttlings anraten wegen der kakophonie priester Properz' in 'priester Horaz wieder umgeändert wurde (s. Eckermann II s. 201 und v. Loeper zu der stelle).

67 bekanntlich auch bei Schiller schlusz des 'sieges festes'.

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