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ERSTE ABTEILUNG
FÜR CLASSISCHE PHILOLOGIE

HERAUSGEGEBEN VON ALFRED FLECKEISEN.

79.

.'homer And The Iliad By John Stuart Blackie. Vol. 1: Homeric Dissertations, Vol. 2 And 3: The Iliad In EngLish Verse , Books 1—24. Vol. 4: Notes Philological And Archaiological. London, Edmonston and Douglas. 1866. XVIII u. 441, 406, 440, 451 s. gr. 8.

Ueberblickt man die Homerische Htteralur Englands und Deutschlands, so scheint es fast als ob von anfang an beide nationen eine art arbeitsteilung vorgenommen hätten. England hat einmal eine unendliche menge von Übersetzungen hervorgebracht, von den Chapman, Thomas Hobbes, Pope bis auf die Derby, Littleton und Gladstone unserer tage, dann eine kaum geringere anzahl von Schriften welche das Verständnis des dichters den jedesmaligen, nicht blosz philologischen, Zeitgenossen nahe bringen wollten, den anfang machte hier Robert Wood mit seinem 'essay on the original genius and writings of Homer' (1769), einem werke welches Goethe in 'wahrheit und dichtung' nicht genug erheben konnte; uud von da ab setzt sich die reihe der 'essays' und 'studies' über Homer bis in die neueste zeit fort, die Deutschen dagegen haben seit Wolf fast ausschlieszlich die gelehrte seile am Homer cultiviert und so emsig gepflegt, dasz Bernhardy mit recht die disposition der gesamten einschlägigen litteratur, was aufwand an zeit betrifft, der ahfassung eines selbständigen Werkes gleich achten konnte, ganz freilich ist diese teilung der arbeit nicht eingehallen, denn gehen wir hinler Wolf zurück, so finden wir auf unserer seile die naraen Lessing und Voss, auf der andern Wolfs groszen Vorläufer Bentley und neuerdings einen ebenso scharfsinnigen wie gelehrten bekämpfer des erstem, George Grote. nichtsdestoweniger wird im ganzen die gemachte Scheidung richtig das thatsächlich verschiedene intéresse ausdrücken, welches beide nationen zu den Homerischen Studien geführt hat, und, setzen wir hinzu, nicht minder richtig andeuten, dasz der schwierigere und wichtigere anteil an der gemeinsamen aufgäbe den Deutschen zugefallen ist.

John Stuart Dlackie lebte in jüngeren jähren lange in Italien, wo er mit den groszen deutschen gelehrten verkehrte: er war befreundet mit Welcker und dem nun verstorbenen Gerhard; dem erstem widmet er •in erster linie sein werk, in Italien gab er sich dem sludium der kunst

Jahrbücher für clasi. philol. 1868 hfl. 9. 38

und der lilteraluren hin und legt jetzt, als professor des griechischen in Edinburg, die resultate seiner Studien, welche er seit frühester zeit auf Homer bezog, den gebildeten unter seinen landsleuten vor. so schlieszt er sich an die oben genannten an, ohne ein im sinne unserer continentalen schule gelehrtes buch zu liefern, das ganze werk ist mit aller Solidität und pracht englischer typographie hergestellt und so auf einen für unsere Verhältnisse unerhörten preis gebracht (42 sh.). in England bewahrheitet sich eben nicht, was Lessing als Deutscher sagte, dasz auch die glücklichste autorschafl das armseligste hand werk sei, was von philologischer .Schriftstellern mit wenigen ausnahmen bei uns noch heute gilt, und doch dürfen wir diese diflerenz wol nicht ausschlieszlich dem grôszern intéresse zuschreiben, das unsere naclibarn jenseit der Nordsee den resultaten classischer Studien widmen; wir zweifeln sogar ob bei allem guten willen derselben der vf. einen in jeder hinsieht glücklichen wurf getban hat. solche werke scheinen vielmehr ihr leben dem groszen publicum reicher liebhaber zu verdanken, welches bûcher kauft, um sie als zierde hinzustellen, wo der deutsche gelehrte als einziger käufer an dem etwa zu lernenden für seine ausgäbe sich schadlos hallen ums/.

Ein hinweis auf das werk und seinen inhalt schien mir nicht unangemessen, es mag den gelehrten interessieren, die auffassung dessen, was vielleicht zum teil seine arbeit ist, aus dem munde eines Vertreters der classischen bildung in England zu vernehmen, auszerdem aber wird mancher, der das buch zur hand nimt, gefallen finden an den bemerkungen allgemeineren Inhalts, die ein mann von groszer belesenheit und feinem geschmack — denn das ist der vf. in jeder hinsieht — uns hier vorlegt.

Um des gelehrten teils willen, welcher die grundlage der dissertationen (band I) bildet, muste der vf. über die 'Homerische frage' eine Übersicht gehen und konnte auch sein eignes urteil nicht vorenthalten, er hat mit sorgfaltigem fleisze die spuren verzeichnet, welche auf die Wolfsche théorie, vorahnend oder deutlich bewust, hinführen, man mag es auch hier dem Engländer zu gute halten, dasz er mit den worlen 'so viel über den englischen Ursprung der Wolfschen théorie' abschlieszl. ob wir aber seinen landsleuten glück wünschen dürfen, wenn sie gegen die resultate dieser Wolfschen théorie B.s eigne ansieht über die entstehung der Homerischen gedichte eintauschen, ist eine andere frage, denn während sonst die 'einheil' der Homerischen gedichte in der früher beliebten fassung längst aufgegeben ist, auszer wo der Unverstand in vereinzelten erscheinungsformen auf das fehl der Homerischen kritik sich gewagt hat: treffen wir hier eine ansieht an, für welche die Wolfsche théorie eigentlich nie dagewesen zu sein scheint, in der 4n diss, weist B. auf stoll'e hin welche Homer vorlagen, und gibt (s. 137) sogar Heder zu, deren erbe der dichter gewesen; aber das hindert ihn nicht einen dichter und ein einheitliches gedieht in der 6n diss, zu beweisen, wunderlich genug sucht er (s. 206J Wolfs beweis, dasz schriftliche fhierung solcher gedichte in so früher zeit unmöglich gewesen, auf grund äuszersl dürftiger beweisslücke umzustoszen, und hält sogar eine um ЭОО unternommene aufzeichnung der ganzen Ilias und Odyssee für möglich, und doch ist das erste Leispiel eines umfassenden schri ft gebrauch s der gesetzescodex des Zaleukos 664 vor Ch. (vgl. Wolf s. 66 ff.), das gewagte einer solchen behauplung ist um so verwunderlicher, als B. von letzterer keinen gebrauch macht, 'sie brauchen nicht geschrieben gewesen zu sein' sagt er gleich darauf und nimt nun mündliche tradition Jahrhunderte hindurch an, bis schriftliche aufzeichnung durch spätere Homeriden eingetreten sei. beiläufig erfahren wir dasz Balhurst, bischof von Norwich, als schüler die ganze Ilias aus dem gedächlnis hat aufsagen können. Wolf leugnete bekanntlich die möglichkeit, dasz geschlossene gedichte solches umfanges ohne schrift entstehen und überliefert werden könnten; seine gegner und viele seiner nachfolger fochten den schlusz an, und so ist man denn allmählich, aber jetzt allgemein, zu der ansieht gekommen, dasz die gedichte selbst für die entscheidung der frage letzte instanz sind, wer nun in ihnen eine bedeutende ursprünglichkeil der einzelnen partien bei stets gestörtem zusammenhange findet, der wird auf eine allmähliche entstehung des ganzen aus einzelnen liedern geführt werden, jver einen durchgehenden, nur hie und da gestörten, erweiterten, vernachlässigten grundplan zu entdecken glaubt, wird an die möglichkeit einer einmal, vielleicht auch von einem gefaszten conception denkeu können, wer schlieszlich die immerhin bemerkbare Störung des Zusammenhanges aus der Verbindung gröszerer massen sich erklären kann, hat gröszere selbständige gedichte, nicht blosze lieder, als ursprüngliche teile anzunehmen, jenen ersten weg gieng Lachmann; an die zweite entstehungsart dachte wenigstens Wolf selbst (praef. Нот. 1795 s. XXVI), was В. s. 227. 245 nicht erwähnt, den letzten weg schlug Grote ein, indem er eine Ilias und eine Achilleis als bestandteile unserer Ilias voraussetzte, nichts von alledem bei unserm vf. er ficht zuerst, wie vor ihm schon Grote und andere, s. 216 Lachmanns ansieht an, dasz erst seit Peisistralos die Ilias in gegenwärtiger gestalt existiere und früher keine schriftliche aufzeichnung stattgefunden habe, und in der that wird man das wenigstens verneinen dürfen, dasz diese Peisistrateische aufzeichnung zugleich die erste anordnung der bisher zerstreuten lieder gewesen sei: denn werke des epischen kyklos, wie die lliupersis und Aethiopis des Milesiers Arklinos (775 vor Ch.), ferner die Solonische feslslellung des liedervortrages an den Panalhenäen sind frühere thatsachen, welche einen gewissen geschlossenen Zusammenhang der Ilias und Odyssee voraussetzen, wenn wir nun ferner annehmen, dasz etwa um 650 schon eine aufzeichnung erfolgte, die Peisistrateische also nicht die erste war, so läszt sich ein positiver beweis dagegen von den anhängen! Lachmanns nicht bringen, schlieszlich kann — was auch der vf. annimt — der Zusammenhang, welchen Peisistratos etwa herstellte, ein nur abhanden gekommener gewesen sein, und die exislenz der Lachmannschen einzellieder niüste mindestens weit jenseit der zeit des tyrannen liegen und dazwischen schon eine später wieder gestörte einigung stattgefunden haben, diesen argumenten gegenüber bleibt aber doch, wenn wir die gedichte selbst betrachten, eine wichtige lhatsache der WolfLachmannschen lehre stehen: es musz eine zeit gegeben haben, wo das

jetzt vereinigte getrennt war, wo einzellieder existierten, gleichviel ob wir dieselben noch durch analyse herstellen können, deun die unebenheilen, welche den gegenwärtigen Zusammenhang unterbrechen, werden nicht durch die annähme allmählich hinzugetretener interpolalionen erklärt, ein grundplan, wie er das kennzeichen eines einheitlichen Werkes wäre, ist nicht vorhanden, wenn man dafür nicht die historische aufeinanderfolge nehmen will, ohne welche aber eine reihe von thatsachen überhaupt nicht vorzutragen ist. die Grolesche théorie, welche die entstehung aus einer Ilias und Achilleis annimt, entspricht, weil sie verhällnismäszig conservativ ist, am meisten der ansieht des vf. ehe er seine eigne théorie aufstellt, bekämpft er indes auch sie (s. 245—259), wobei freilich zu bemerken ist, dasz ihr von anderer seile schon genügendes entgegnet worden, und dasz die verständige betrachtung des gedichtes selbst stets wieder auf eine der von Lachmann gewollten ähnliche entstehungsweise zurückführt, der vf. aber findet im gegenteil (s. 211— 215) einen einheitlichen plan in der Ilias: das eigentliche sujet ist der troische krieg, und der zorn des Achilleus vom dichter gewählt, um denselben zu veranschaulichen-(embody), weil dieser zorn fruchtbar war dramatische Situationen hervorzurufen, wir dürfen uns hiernach nicht wundern, wenn der vf. sogar wieder auf eine tragische 'idee' in der Ilias zurückkommt (s. 215). gibt er selbst mit diesem ergebnis seiner analyse sich zufrieden, so beruht doch dasselbe nur auf subjeetivem ermessen und hat nur für die welche seiner autorität unbedingt folgen geltung. beweisende kraft bat das ganze raisonnement nicht, und wenn B. zum sehliisz John Wilsons worte: 'manche glauben an zwanzig Homere, ich an einen; die natur ist nicht so verschwenderisch mit ihren groszen dichtern' — wenn er diese worte, welche ein recht hübsches argument für einen epigrammaliker, aber ein herzlich schlechtes für einen gelehrten forscher abgeben, zu den seinigen macht, so kennzeichnet das auf das treffendste den subjeetiven Charakter solcher art von beweisführung.

Nach solchen ergebnissen weichen natürlich auch seine Überzeugungen betreffs der person Homers wesentlich von den unsrigen ab. die 3e diss, handelt über diesen gegenständ, der vf. fügt s. 82 den acht Homerischen biograpbien bei Westerraann eine neunte anonyme hinzu und wählt nun, ohne reclienschafl über seine wähl zu geben, die sog. vita Herodoli aus, um aus ihr das leben seines dichter« zu construicren. dazu nimt er als 'innern beweis' s. 108 die von Robert Wood gemachte bemerkung, dasz II. I 4 der Zephyros mit dem Boreas von Thracien herüberweht, und schlieszt so auf einen 'minstrel', der an der kleinasialischen küste um Smyrna etwa 900 vor Ch. wohnte, die einzelhcitcn, mit denen er das leben seines 'epischen arlisten' ausstattet, erlassen wir dem leser; das factum ist nur ausgewählt, um die kritiklose méthode des vf. in behandlung lillerargeschichtlicher fragen zu kennzeichnen, hätte er die unschätzbaren 'Homericae dissertationes' unseres landsmannes Sengebusch gekannt, so würde er aus der Zusammenstellung der überlieferten nachrlchten über Homer, verglichen mit den zeitausätzen (1 s. 1-—13. 19 ff. 2 s. 78 ff.) gesehen haben, dasz eine tradition über Homer als person nur von denen geglaubt werden konnte, welche vereinzelte Zeugnisse aus dem zusammenhange rissen und mit eignen hypothesen erläuterten, etwas anderes aber hat B. auch nicht gethan, und deshalb können diese resultate seiner Forschung nicht einmal den anspruch machen widerlegt zu werden.

Es bleibt noch ein wort zu sagen über die art wie B. seine leser auf seine positiven ergebnisse vorzubereiten und die entgegenstehenden andichten zu entkräften sucht, das letztere konnte auf zwei weisen geschehen: durch summarisches referieren und anschlieszen der gegenbeweise in ihren hauplpuncten oder durch Widerlegung im einzelnen, der erste weg empfahl sich für ein gröszeres publicum, der zweite dem lernenden und gelehrten gegenüber, der vf. hat beide methoden unzweckmäszig vermischt. Wolf, Lachmann, Köchly, Grote werden in der weise bekämpft, dasz einzelne thesen, und nicht immer die stärksten, mit fast philologischer genauigkeit kritisiert werden, hat der vf. hier sich philologische leser gedacht, so passte doch die unvollständigkeit der discussion ebenso wenig für solche, wie anderseits die ausfallenden allgemeinen bemerkungen, welche manchmal in einen geradezu unpassenden ton übergehen, doch nur einem gröszern publicum imponieren können, oder was wird mau von folgenden worten s. 237 denken? raber worin besteht die von Köchly gewollte inconsequenz in Agamemnons benehmen an dieser stelle? es scheint freilich dasz, wenn prof. Köchly das zweite buch geschrieben hätte statt Homers, er den könig der menschen in einer mehr königlichen und majestätischen hallung vorgeführt halle, das glaube ich wol. auch der könig der götter spielt in diesem buche eine gleich unkönigliche rolle; er schickt einen trügerischen träum, und Agamemnon hält eine lügenhafte rede. prof. Köchly würde das nicht gethan haben, das ist Homers Unglück, er schrieb sein gedieht, ehe man von deutschen Universitäten wusle' usw. oder s. 244: 'ich glaube annehmen zu dürfen, dasz jeder englische leser mit mir einen groszen teil dieses titanenhaften aufwandes fruchtloser gelehrsamkeit (derWolfianer) einem specialen fehler in der inlellectuellen anläge der Deutschen zuschreiben wird, ähnlich jener wunderbaren hergebrachten subtilität', welche die Deutschen so hülflos in politischen dingen erscheinen lasse, 'grosze gelehrsamkeit hat sie nicht gerade verrückt (mad) gemacht, aber übersubtil, spürlustig, tadelsüchtig und unpraktisch.' und so geht es noch eine weile fort, das verleiht dann die nötige folie dem 'general uncorrupted instinct of the English mind', dessen bemühungen um die Homerkritik s. 245 weiter verfolgt werden, so ist es doch ebenfalls mindestens nichtssagend, was wir s. 129 als abschlieszendes urleil über Welckers 'epischen cyclus' und ähnliche arbeiten lesen: 'sie werden die Bewunderung einiger englischer gelehrten erregen, andere zum lächeln, keinen zur nachahmung auffordern.' und s. 367 heiszt es von einer classe deutscher kritiker: 'sie scheinen zu glauben, dasz beine nur dazu da sind, um von ihnen abgeschnitten zu werden', und fechten lieber á la Don Quixote gegen Windmühlen oder den schatten ihres eigenen speers als gar nicht, was wir s. 382 über die Engländer lesen, ist zwar für die

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